Das geschenkte Gesicht
'runter, wenn Sie weiter solchen Unsinn reden«, sagte Lisa. Schwabe wußte, daß sie es tun würde, und hob mit einem Lächeln den Kopf. Er streckte ihr sein neues, von roten Narben durchzogenes Gesicht entgegen und legte die Hände auf den Rücken.
»Schlagen Sie zu, Frau Doktor«, sagte er heiser. »Bitte, schlagen Sie zu. Nehmen Sie die Faust dafür – ich habe es verdient.«
»Ich werde doch mein eigenes Kunstwerk nicht zerstören.« Lisa lachte und stieß Schwabe vor die Brust. »Das könnte Ihnen so passen: Nochmals drei Jahre hier herumlungern und das dritte Gesicht bekommen. Nein, mein Lieber – Schloß Bernegg ist jetzt für Sie vorbei. Ihre Frau, Ihr Kind brauchen Sie. Oder soll sich Ihre Frau weiterhin die Finger blutig nähen, wo sie doch ein Mannsbild hat, das Bäume ausreißen kann?«
»Wir haben es schon besprochen«, sagte Ursula. Sie deckte Erika zu, die sich im Schlaf bloßgestrampelt hatte. »Wir bleiben zunächst hier. In Köln haben wir alles verkauft. Und ich möchte auch nicht, daß … Nein, es soll wieder ganz von vorne beginnen. Wir sind ja noch jung.«
Frau Hedwig Schwabe verscheuchte eine Fliege vom Kopf des Kindes und dachte, wie immer, am nüchternsten. »Wie sollen wir der Kleinen beibringen, daß der Onkel Erich plötzlich ihr Vater ist?«
Lisa Rusch sah ihren Mann hilfeflehend an. Sie wußte es auch nicht. »Du hast doch auch Psychologie studiert, Walter«, sagte sie. »Es ist wirklich ein Problem.«
Professor Rusch sah an den Wänden entlang und auf die vielen Glasbilder, die Schwabe gemalt hatte. »Sie müssen ein neues Märchen malen«, sagte er langsam. »Die Geschichte von einem Vater, der auszog und dem der Krieg Gesicht und Namen genommen hat.«
»Das ist kein Märchen. Das ist die schrecklichste Wahrheit, die es geben kann.«
»Für das Kind muß es ein Märchen sein, es muß noch an Wunder glauben.«
Frau Schwabe sah ihren Sohn an, wie nur eine Mutter ihren Sohn ansehen kann. »War es nicht ein Wunder?« sagte sie leise.
»Nein«, sagte Professor Rusch plötzlich hart. »Wir haben vier Jahre lang um ein Gesicht gerungen, das in einer Sekunde zerstört worden war. Wir haben Hunderte dieser Gesichter unter den Händen gehabt, und überall wurden zerfetzte Leiber geflickt, wurden Arme und Beine amputiert, zwei Millionen Kriegsbeschädigte tragen die Andenken des Krieges unverlierbar mit sich herum. Und warum? Ist die Welt besser geworden? Hat man aus dem Leid gelernt? Hat man alle Waffen in den Meeren versenkt oder in den Vulkanen verbrannt? Im Gegenteil – jetzt spielt man mit Atomen, wie ein Jongleur mit seinen Bällen. Und der Jongleur aus dem Osten ist neidisch, wenn der aus dem Westen einen größeren Ball balanciert, und umgekehrt. Und einmal werden sie sich diese Bälle an den Kopf werfen wie kleine Jungs, die schreien: ›Ich will aber den größten Ball haben.‹« Rusch sah auf das kleine weiße Bett und auf das Kind, das sich in unruhigem Fieberschlaf hin und her wälzte. »Diese traurige Wahrheit erzählen Sie dem Kind, lieber Schwabe, wenn es denken gelernt hat. Jetzt müssen Sie noch ein Märchen malen, wie aus dem Onkel Erich der mit einem neuen Gesicht aus dem Krieg zurückgekommene Papi geworden ist.« Er faßte seine Frau an der Hand und zog sie mit sich zur Tür. »So – und nun müssen wir weiter. Und lassen Sie sich nicht einfallen, vor zwei Wochen wieder auf dem Schloß zu erscheinen. Und dann auch nur, um Ihre Entlassungspapiere abzuholen und die Schlußuntersuchung über sich ergehen zu lassen.«
»Herr Professor«, sagte Schwabe stockend »… Die Blumen – und das Reh?«
»Verstanden?« schnauzte Lisa Rusch wie früher, als sie noch Lisa Mainetti hieß. Schwabe zuckte zusammen. Er legte die Hände an und warf den Kopf hoch.
»Jawoll, Frau Doktor«, brüllte er zurück.
Im Bettchen fuhr Erika hoch und sah mit halbwachen Augen um sich. »Das Kind«, rief Frau Hedwig Schwabe tadelnd. »Jetzt habt ihr es wach gemacht.«
»Sehen Sie, Schwabe«, sagte Lisa und nickte Schwabe lächelnd zu. »Wir zwei müssen noch allerhand lernen, um perfekt Vater oder – Mutter zu sein.«
Unten am Wagen hielt Rusch seine Frau zurück, als sie einsteigen wollte. »Was war das eben für eine Bemerkung?« fragte er.
Lisa ließ sich auf die Polster fallen und zog den Rock über die Knie. Mit der anderen Hand strich sie ihre schwarzen Haare aus der Stirn.
»Du bist eben ein Gesichtschirurg«, sagte sie lachend. »Unterhalb des Kinns hört für dich die
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