Das geschenkte Gesicht
schau – ihm ist wieder etwas ins Auge geflogen«, rief Barbara und machte sich aus Schwabes Armen los. »Aber diesmal weint er richtig wie du.« Und Schwabe legte seine Stirn auf das weiße Gitterbett und schämte sich nicht mehr seiner Tränen.
Eine Stunde später hielt der Wagen Professor Ruschs vor dem Haus Wacholderweg 14. Lisa stieg aus und sah zu den offenen Fenstern des ersten Stockwerkes hinauf. Dann beugte sie sich vor und riß die Tür des Fahrersitzes auf.
»Es ist alles so still da oben«, sagte sie. »Zum erstenmal habe ich richtige Angst, Walter.«
»Na, dann gehen wir mal hinauf.« Rusch stieg aus dem Wagen und ließ die Tür zuknallen. Man mußte es oben in den Zimmern hören. Aber nichts regte sich an den Fenstern.
Rusch vermied es, Lisa anzusehen. Er dachte an den Fall Oster und all die Sinnlosigkeiten, zu denen ein Mensch in seiner Verzweiflung fähig war. Lisa Rusch hielt ihren Mann am Arm fest, als er durch die Vorgartentür, die weit offen stand, ins Haus gehen wollte.
»Wenn wir nun eine Dummheit gemacht haben, Walter? Ich hätte ewig ein Schuldgefühl.« Es klang kläglich. Rusch schüttelte den Kopf.
»Wir haben das Beste gewollt.«
Sie betraten das Haus und stiegen langsam die Treppe zum ersten Stockwerk hinauf. Niemand kam ihnen entgegen. Vor der Kinderzimmertür zögerte Lisa wieder, die Klinke herunterzudrücken. ›Was werden wir hinter dieser Tür finden‹, dachte sie, und sie fror trotz der drückenden Schwüle.
Rusch legte seine Hand über die ihre und drückte die Tür entschlossen auf. Dann blieben sie auf der Schwelle stehen, überblickten das Zimmer, sahen sich befreit und lächelnd an.
Um das Kinderbett saßen Erich Schwabe, Ursula und Frau Hedwig Schwabe. Sie saßen in einem Halbkreis, und wie zu einem Reigen hatten sie sich an den Händen gefaßt: ein Wall um das Kind, das mit lächelndem Gesichtchen schlief. Ursula wandte den Kopf zur Tür. Ihr Lächeln war so voller Glück, daß es keiner Frage mehr bedurfte.
»Sie schläft«, sagte sie leise. »Vor zehn Minuten ist sie endlich eingeschlafen. Aber das Fieber ist noch da.«
Professor Rusch trat leise an das Bettchen heran. »Wir sind auch nur rasch vorbeigekommen, um nach Erika zu sehen.« Er sagte bewußt Erika und legte, als er sich über das Bett beugte, beide Hände auf die Schulter Schwabes. »Ich werde Ihnen noch einige Zäpfchen hierlassen, Herr Schwabe. Und bis zur völligen Gesundung Ihres Kindes sind Sie selbstverständlich beurlaubt.«
Schwabe tastete nach den Händen Ruschs und hielt sie auf seiner Schulter fest.
»Sie haben alles gewußt, Herr Professor.«
»Natürlich. Man hätte Sie ja erschlagen können, und Sie hätten sich geweigert, auch nur mit Ihrer Frau oder Ihrer Mutter zu sprechen. Aber das Kind«, Rusch drückte die Hände Schwabes. »Mein lieber Junge – ich möchte den Menschen sehen, der vor dem Lächeln eines Kindes und vor dem Blick dieser großen blauen Augen nicht alle Vorsätze vergißt und das Kindliche in sich selbst wiederentdeckt.«
»Und wer ist Frau Kartuscheck?«
»Eine gute Bekannte Ihrer Frau. Sie kam zuerst als Kundin in die Schneiderwerkstatt, dann haben sich die beiden Frauen angefreundet. Emmi Kartuscheck ist Fürsorgerin in Würzburg. Ihre Frau, Herr Schwabe, war zwei Wochen an einer heftigen Nervenentzündung der Arme erkrankt. – Tagaus, tagein nähen, das war eben zu viel für die kleine Frau, Sie verstehen. Und die Großmutter allein hätte die ganze Arbeit nicht geschafft. Da haben wir Frau Kartuscheck für die Betreuung des Kindes geholt und dabei den Plan geboren, Erika zu Ihnen zu bringen. Das Kind wußte von nichts. Sie waren bis heute der gute Onkel Erich für es.«
Schwabe stand leise auf und trat vom Bett zurück. Man sah, daß er sich schämte und daß er nach Worten suchte, um etwas zu erklären oder zu danken. Er reichte Lisa die Hand hin, und es war eine so hilflose Geste, daß die Ärztin sie ergriff und mit der anderen Hand behutsam streichelte.
»Ich … ich bin ein dummer Kerl, Frau Doktor«, sagte Schwabe leise. »Ich verdiene dieses Glück gar nicht.«
»Fangen Sie schon wieder an, Sie Vollidiot?« sagte Lisa in altgewohnter grober Art. »Ihr Gesicht haben Sie wieder, so gut es eben geht. Eine Frau haben Sie und eine Mutter, die für Sie den Satan aus der Hölle zerrt. Und Sie haben das süßeste Kind, das sich ein Vater wünschen kann.«
»Ein so schönes Kind von einem so häßlichen Vater.«
»Schwabe – ich haue Ihnen eine
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