Das geschenkte Gesicht
und zog sie mit sich fort. »Komm, Kindchen!« sagte sie nur. »Wir bleiben noch eine Woche in Bernegg.«
»Was macht … wie geht es Erich?« stammelte Ursula. Ihre Fingernägel gruben sich in Frau Schwabes Arm. »Wie sieht er aus?«
»Gut …«
»Gut?«
»Er hat drei Pfund zugenommen.«
»Aber sein Gesicht, Mutter …«
»Ach was!« Frau Schwabe schüttelte energisch den Kopf. »Es wird viel zuviel darüber geredet! Natürlich sieht es nicht schön aus, die Frau Doktor hat es dir ja gesagt. Aber in ein paar Monaten ist alles wieder gut!«
Ursula Schwabe schwieg. Sie dachte an die Männer, die sie über die Mauer hinweg gesehen hatte. Fratzen wie aus wilden Fieberträumen geboren. Sie wußte, daß die Schwiegermutter sie belog. Jetzt wußte sie es genau. Aber sie nahm es ihr nicht übel. Vielleicht würde ich sie auch belogen haben, wenn ich Erich zuerst gesehen hätte, dachte sie. Und sie schloß die Augen und sah Erichs Gesicht vor sich: ein fröhliches, lachendes Gesicht mit wirren blonden Haaren und einem männlichen, ein wenig sinnlichen Mund. Und dann zog eine Wolke über das lachende Gesicht, und als die Wolke sich verflüchtigte, war es ein Kopf ohne Konturen, der zurückblieb: Augen, nur die Augen inmitten einer narbigen, roten, zerrissenen Fläche. Und darüber die wirren blonden Haare –
Vor dem Schloß brach Ursula ohnmächtig zusammen und hing am Arm Frau Schwabes. Ein Kübelwagen der Wehrmacht brachte sie hinunter zum Ort Bernegg, wo man die Ohnmächtige in das Gasthofzimmer trug und der alte Landarzt ihr eine herzstärkende Injektion gab.
Erich Schwabe saß unterdessen glücklich auf seinem Zimmer und schrieb einen Brief an seine Frau.
»Liebste Uschi!« schrieb er.
»Mutter war hier, und sie wird Dir erzählen, wie es mir geht. Ich hatte solche Angst, Dich zuerst zu sehen … bitte, verzeih mir. Aber jetzt, wo Mutter sagt, daß alles halb so schlimm ist, sollst Du kommen. Nun will ich Dich sehen und auch von Dir hören, daß Du mich immer lieben wirst …«
Dann sah er zufrieden aus dem Fenster. Unten, im Tal, unterbrochen durch die Baumkronen, sah er die Dächer von Bernegg. Auch das Dach des Gasthofs, in dem Ursula Schwabe gerade ihre herzstärkende Injektion erhielt.
Zwei Tage vor Weihnachten wurde ein neuer Patient eingeliefert. Dr. Mainetti, die an diesem Abend Arzt vom Dienst war, wurde aus ihrem Zimmer zur Aufnahme gerufen. Im Kleinen Verbandsraum saß ein junger Soldat auf einem Hocker. Neben ihm stand ein zweiter Soldat mit verkniffenem Gesicht, in der Faust ein Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett.
Er sah verwundert auf die Ärztin, die in den Raum trat und ihn wie ein Feldwebel musterte. Dann wandte sich Dr. Mainetti dem Jungen zu. Er hatte eine Kieferklemme im Mund und sah mit einem fast hündisch flehenden Blick zu ihr auf, nackte Angst in den Augen.
Der Schreibstubensanitäter, der die Aufnahme eintragen mußte, saß an einem kleinen Tisch am Fenster. Er kannte Dr. Mainetti seit zwei Jahren. Er schwieg, während sich der Mann mit dem Bajonett räusperte und, den Blick zu ihm gewandt, mit einer Kopfbewegung auf die Ärztin wies.
»Sie brauchen gar nicht wie ein Asthmatiker zu röcheln!« sagte Dr. Mainetti laut. Sie begann das Kinn des jungen Soldaten abzutasten. Dabei bemerkte sie, daß der Junge eine Uniform ohne Schulterstücke trug. Sie war alt, zerschlissen und am Kragen durch Blutspritzer befleckt.
»Im übrigen – was machen Sie hier im Behandlungszimmer?« fragte Dr. Mainetti den Begleitsoldaten. »Sie haben vor der Tür zu warten!«
»Irrtum!« Der Mann mit dem Bajonett grinste breit. »Ich bleibe hier! Ich muß bei der Behandlung dabeisein.«
»'raus!« schrie Dr. Mainetti. »Und zwar flott!«
»Ich habe den Befehl von meinem Kompaniechef!« Der Wachmann blieb stehen und senkte wie ein Stier den Kopf.
»Ihr Kompaniechef geht mich einen Dreck an! Hier bin ich der Chef! Wenn Sie nicht sofort gehen, lasse ich Sie hinauswerfen!«
»Na so was! Ein Weib, das wild wird!« Der Soldat wandte sich an den Sanitäter, der still an seinem Tisch saß. »Kumpel! Hol mir mal den wachhabenden Arzt! Dem werd' ich was flüstern!«
»Sofort!«
Mit einem Satz sprang der Sanitäter auf, stand vor Dr. Mainetti stramm und meldete: »Frau Doktor … da ist jemand, der möchte den diensthabenden Arzt sprechen! Er möchte sich bei ihm beschweren!«
»Himmel, Arsch und Zwirn!« machte der Mann mit dem Bajonett. Dann zog er das Gewehr an und stand ebenfalls stramm. »Melde
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