Das geschenkte Gesicht
transportierte die deutschen Soldaten ab, sie standen eng zusammengepfercht auf der Ladefläche und hielten sich an den Seitenwänden fest. »Leutnant Potkins wird im Lazarett bleiben.«
Professor Rusch sah verwundert auf die Hand, die sich ihm entgegenstreckte. Braddock bemerkte das Erstaunen.
»Mein Händedruck gilt dem Arzt, der meine drei Kameraden pflegen wird, nicht dem Deutschen!« sagte er hart.
Rusch legte seine Hand in die des Amerikaners. »Sind meine Gesichtsverletzten auch Kriegsgefangene?« fragte er.
»Was denken Sie?« Braddock winkte. Der Motor des Jeeps heulte auf. »Ob mit oder ohne Gesicht – bis zu anderslautenden Befehlen sind es deutsche Soldaten.«
Drei Stunden später fuhr in schneller Fahrt ein amerikanischer Sanitätswagen durch das Einfahrtstor vor die Aufnahme. Ein junger Offizier, der über seiner Uniform einen weißen Kittel trug, sprang aus dem Fahrerhaus, kaum daß der Wagen hielt. Von der amerikanischen Wache rannten sechs Mann heran und ergriffen die Tragen, als die Rückwand des Wagens aufklappte. Lisa Mainetti und Dr. Vohrer standen bereits im OP, als die drei amerikanischen Gesichtsverletzten hereingetragen wurden. Man hatte ein Tuch über ihre Köpfe gelegt, als könne selbst die Sonne den Anblick nicht ertragen.
»Doktor Stenton«, sagte der junge Offizier. Auch er betrachtete Lisa verblüfft, wie sie in Gummihandschuhen neben dem Operationstisch wartete, neben sich den Famulus Baumann und die OP-Schwester.
Es waren schwere Gesichtsverletzungen, aber sie waren blendend versorgt worden. Die Schienen an den zerschossenen Kiefern saßen, obwohl sie nur provisorisch waren, genau und rutschfest, die Druckverbände waren aus bestem Material, die Verwundeten schliefen unter der Einwirkung beruhigender und schmerzstillender Drogen. Das erstaunlichste war ein weißgraues Pulver, das auf einigen offenen Wunden lag. Dr. Mainetti sah Dr. Stenton an, der auf der anderen Seite des Tisches gewandt, wortlos, mit schnellen Fingern bei der Bloßlegung der Gesichter half.
»Was ist das?« fragte Dr. Mainetti und zeigte auf den Puder.
»Penicillin!«
»Dieses geheimnisvolle Wundermittel?«
»Nicht geheimnisvoll.« Doktor Stenton lächelte. »Vielleicht für Germany. Sind hier 50 Jahre zurück! Wo Penicillin, keine Eiterungen!«
Lisa Mainetti schwieg. Wir sind nicht 50, wir sind 1.000 Jahre zurück, dachte sie verbittert. Wie phantastisch diese neuartigen Klammern sind, mit denen sie die Kiefer ausrichten und stillegen. Wie wundervoll ist das Verbandsmaterial, neu, saugfähig, reißfest. Und wir wickeln seit Jahren mit Binden, die immer wieder gewaschen werden, deren Kanten ausfransen, die dünn sind wie Spinnweben. Und Penicillin haben sie. Wie stolz er es sagt: Es gibt keine Eiterungen mehr … Erst viel später sollte sich herausstellen, daß für die plastische Chirurgie andere Gesetze gelten und es heute eine Grundregel bei Gesichtsverletzungen ist, von der örtlichen Anwendung der Antibiotica Abstand zu nehmen.
Sie hemmen zwar das Wachstum von Wundbakterien, zugleich jedoch auch die Wundheilung und begünstigen die Entstehung unschöner Narben und Verwachsungen.
Durch die Tür des OP stürzte Professor Rusch. Er war aufgeregt, zum erstenmal sah man ihn mit unordentlichen Haaren und flatternden Bewegungen. Er rannte an den Tisch Dr. Mainettis und drehte sie an den Schultern zu sich um.
»Lisa«, sagte er, atemlos vom schnellen Laufen. »Lisa, ein amerikanischer Wagen ist gekommen. Mit Verbandsmaterial, mit chirurgischem Besteck, mit Morphium, mit diesem neuen Penicillin, mit allem, was uns fehlt!«
»Sie sorgen gut für ihre drei Mann! Sie demonstrieren unseren Irrsinn, gegen sie den Krieg gewinnen zu wollen!«
»Nein, Lisa, nein! Begreifst du denn nicht.« Rusch wischte sich über die Augen, als müsse er aus einem schweren Traum erwachen. »Es ist für uns – für uns, Lisa!«
Dr. Mainetti legte die Schere hin, mit der sie gerade ein Stück Bindegewebe abgetrennt hatte. »Für uns?« Sie sah zu Doktor Stenton. »Für uns?«
Stenton nickte. »Yes! Seit Abraham Lincoln kennen wir die Humanität.«
»Bumm!« Lisa beugte sich wieder über das zerstörte amerikanische Gesicht. »Dr. Stenton ist ein Genie darin, gut sitzende Ohrfeigen zu verteilen!« Während sie den Kiefer vorsichtig mit einer Sonde abtastete, ob lose Splitter vorhanden waren, schielte sie zu Stenton hinauf. »Nun erwarten Sie ein kräftiges ›Thank you‹, nicht wahr?«
»Yes!« sagte Stenton
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