Das geschenkte Gesicht
drehte sich um und ging wieder die Straße hinunter. Die Wagenschlange vor der Heeresapotheke hatte sich beträchtlich verlängert. Dora Graff stand an ›Berneggs Geheimwaffe‹ und sah unruhig nach allen Seiten. Als sie Adam von weitem kommen sah, rannte sie ihm entgegen.
»Fritz!« rief sie. »Fritz! Wo bleibst du denn? Ich habe die Kartons. Wir sollen von hinten heranfahren und aufladen. Wo hast du denn gesteckt?«
Fritz Adam wischte sich über das verbrannte Gesicht, über Narben, Runzeln und eingeheilte Hautlappen.
»Ich habe mir Würzburg etwas angesehen«, sagte er, und nichts war in seiner Stimme von Erregung oder Enttäuschung. »Eine interessante Gegend. Komm, wir laden auf.«
Er legte den Arm um Dora Graffs Schulter und ging mit ihr zu dem alten, klapprigen, verrosteten Auto zurück.
Am 1. April war Ostern.
Mannheim, Wiesbaden und Frankfurt/Main waren gefallen, in langen Heersäulen zogen die Amerikaner den Main hinauf, auf Würzburg zu. In den Kellern und zwischen den Trümmern verbrannten die Parteifunktionäre ihre gelben und braunen Uniformen, der Kreisleiter tauchte noch einmal kurz in Bernegg auf, holte von einem Bauernhof drei große, verschlossene Koffer ab und fuhr mit seinem Dienstwagen nach Norden. Unterwegs, in einem Waldstück, hielt er an, zog seine Uniform aus, warf sie ins Dickicht, stieg in einen dezenten blauen Zivilanzug und fuhr dann weiter, um schnell den Thüringer Wald und an ihm vorbei den Harz zu erreichen.
Erich Schwabe hatte Ursulas Bild auf dem Nachttisch mit frischen Frühlingsblumen geschmückt, die er um den Teich herum gepflückt hatte. Nun ist sie Ostern doch bei mir, dachte er. Und wie sie mich anlächelt, wie lustig ihre blauen Augen sind. Wie mag es ihr jetzt in Köln gehen? Und die Osterfreude versank in Angst.
›Berneggs Geheimwaffe‹, das alte belgische Auto, stand in einer Ecke des Parks. Um einer Beschlagnahme zuvorzukommen, hatte Fritz Adam den Vergaser ausgebaut und versteckt. »Dieser Wagen ist später Gold wert!« sagte er zu Dora Graff. Er gab ihr den Vergaser, sie legte ihn in ihrem Kleiderschrank unter die Unterwäsche. Es war ein sicherer Platz.
Am 9. April knirschten die ersten amerikanischen Panzer über die Straße von Wertheim nach Würzburg. Aus den Fenstern der kleinen Orte und Maindörfer wehten weiße Fahnen, Bettücher, Handtücher, große Taschentücher. Irgendwo läuteten sogar vom Krieg verschonte Glocken.
Am Morgen des 10. April, bei der Tagesschicht im OP, fehlte Oberarzt Dr. Urban. Professor Rusch winkte dem Famulus Baumann. Nun mußte auch Baumann trotz seiner geringen medizinischen Kenntnis operieren. Er band ab, er versorgte Wunden und Splitterverletzung, er operierte Steckschüsse heraus und half bei Notamputationen. Die wenigen Ärzte wankten an den Tischen vor Übermüdung.
»Holen Sie Urban!« sagte Rusch grob. Unrasiert stand er vor einem gelb-weißen Leib, in dem die Splitter steckten wie die Stacheln eines Igels. »Der Kerl hat wieder zuviel Morphium genommen …«
Baumann kam sofort zurück. Schon an der Tür hob er die Schultern.
»Nicht da, Herr Oberstabsarzt.«
»Was heißt, nicht da?« bellte Rusch.
»Dr. Urban ist weg! Das Zimmer ist leer, das Bett unberührt und …«
»Das ist doch wohl nicht möglich!« rief Rusch. Er warf die Pinzette hin, mit der er die Splitter aus dem Leib gezogen hatte. »Dr. Vohrer – sehen Sie mal gründlich nach!«
Auch Assistenzarzt Dr. Vohrer kam nach fünf Minuten zurück. Sein Gesicht war verkniffen.
»Der Herr Oberarzt ist getürmt!« sagte er so laut, daß alle es hörten. Im OP war plötzliche Stille, die Instrumente ruhten, die Köpfe waren hochgeflogen. »Ich habe nachgesehen. Er hat alles dagelassen, nur einen kleinen Koffer hat er anscheinend mitgenommen. Ich habe die Wache angerufen. Es stimmt. Dr. Urban hat gestern gegen 23 Uhr ohne nähere Angaben das Haus verlassen. Zu Fuß.«
Professor Rusch winkte nach hinten. Eine neue Pinzette wurde gereicht. »Machen wir weiter, Jungs!« sagte er schwer atmend. »Was – was geht uns das an!«
Dr. Lisa Mainetti zögerte. Dann trat sie vom Operationstisch zurück, zog ihre Gummihandschuhe ab und warf sie in einen Eimer. Von einem Verdacht getrieben, rannte sie aus dem OP.
In der Lazarettapotheke sah sie ihren Verdacht bestätigt. Die Türen des Giftschranks waren mit einem Stemmeisen aufgebrochen, Kartons lagen zerrissen und leer darin.
Langsam ging Lisa Mainetti zum OP zurück. Ihr Gesicht war fahl geworden. Sie wusch
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