Das geschenkte Leben
Uhr haben wir fünfzig Minuten posiert, und nun kratzt er mit dem Spachtel ab, was er gemalt hat. Ich kenne mich aus, Joan. Trinken wir eine Tasse Kaffee. Kaffee, Joe?«
»Ja.«
»Wann dürfen wir uns das Bild ansehen?«
»Gibt nichts zu sehen. Vielleicht heute abend.«
Kaum hatten sie ihren Kaffee geschlürft, mußten sie wieder aufs Lager, und Joe schob Joans Beine in etwas veränderte Positionen. Dann trat er zurück, kam wieder und veränderte auch Gigis Beinhaltung. Gigi sagte leise: »Jetzt können wir von Glück sagen, wenn er uns eine Mittagspause gewährt.«
»Wieso?«
»Irgendwas war falsch, und nun geht er von der Projektion ab und arbeitet direkt von uns. Das dauert natürlich länger. Und wir dürfen uns nicht mehr bewegen, Joan.«
»Macht mir nichts, ich bin sehr bequem. Dürfen wir reden?«
»Soviel wir wollen, wenn wir uns nicht bewegen.«
»Gigi, wie ist Joe zu seiner Malerausbildung gekommen? oder ist er ein Autodidakt?«
»Ein was?«
»Einer, der sich das Malen selbst beigebracht hat.«
»Beides, Joan. Ich kann es dir schnell erzählen, denn du würdest eine Ewigkeit brauchen, die ganze Geschichte aus Joe herauszukitzeln. Du hast gesehen, wie Joe malt und was er malt; mindestens zehn von seinen Bildern stehen hier herum. Du könntest noch viele mehr sehen, wenn du die Cafes und Bars und Läden in unserem Viertel hier abklappern würdest. Lauter weibliche Akte, die besser aussehen als in der Natur. Wenn du seine Masche kennst, weißt du sofort, welches Bild von ihm ist und welches nicht; brauchst nicht mal nach der Signatur zu suchen. Die meisten von ihnen sind irgendwie spießig, aber sie haben was, das einen packt. Joe weiß natürlich, daß er nicht Goya oder Picasso oder Rembrandt ist, und er will es auch nicht sein. Er will bloß seine Symbole auf seine Art malen, wie er sagt, und genug verkaufen, daß wir davon leben können. Joe ist Joe, und es ist ihm völlig egal, was andere Künstler tun, oder ob seine eigene Arbeit ihn berühmt macht und ihm viel Geld einbringt, oder nicht. Er ist ein Eigenbrötler. Viele von unseren Freunden sind Künstler oder nennen sich Künstler, aber Joe interessiert sich kaum für das, was sie malen, und redet nicht gern über die Arbeit. Er geht gerne zu ihnen und diskutiert stundenlang über Gott und die Welt, und wenn sie kommen und seine Bilder sehen wollen, zeigt er sie ihnen, und es macht ihm überhaupt nichts aus, wenn sie ›Schinkenmaler‹ zu ihm sagen. Dann steht er da und grinst und kratzt sich am Kopf, während sie ihn aufziehen, aber er ist dabei irgendwie hilflos. Joe will einfach malen – in der Art, die ihm liegt. Und nicht allein schlafen müssen.«
Joan sagte nachdenklich: »Ich glaube nicht, daß Joe sehr oft allein schlafen mußte. Ich meine, früher.«
»Wahrscheinlich nicht. Aber die schönste Frau würde ihn kalt lassen, wenn ihr Benehmen ihm nicht gefiele. Andererseits hat er nichts dagegen, mit einem Mann zu schlafen. Für ihn ist allein wichtig, daß es gute Leute sind, wie er sagt. Gute Vibration, wenn du weißt, was ich meine. Unter deinen Gorillas ist einer, so ein großer Schwarzer, wie heißt er doch gleich?«
»Hugo! Du kennst Hugo?«
»Nie gesehen. Joe hat mir von ihm erzählt. Ich weiß nur zweierlei von ihm: Joe will ihn malen … und Joe liebt ihn. Geistige Liebe, meine ich – aber ich wette, daß Joe mit ihm unter die Decke kriechen würde, wenn Hugo es wollte.«
»Würde Hugo nie tun. Ich glaube, Joe wäre enttäuscht, wenn er Hugo genauer kennenlernen würde. Hugo ist ein netter Kerl, anständig in jeder Weise, aber er ist auch ein Sektenprediger, sehr fromm und sittenstreng und alles.«
»Ja? Nun, ich glaube nicht, daß Joe ihn direkt anhauen würde, ob er mit ihm ins Bett will. Das hat er bei mir auch nicht gemacht; als es das erstemal soweit war, fielen wir einfach aufs Bett, ohne ein Wort. Ich kann nicht sagen, daß einer dem anderen vorher Augen gemacht hätte. (Hmm! Manche Mädchen haben alles Glück. Ich mußte ihm ein Bein stellen.)
Joe träumt von einem Bild, das er von Hugo malen möchte – nur Hugo, groß wie ein Berg, stark und weise und würdevoll. Joe will es ›Jehova‹ nennen.«
»Gigi, vielleicht kann ich helfen. Ich werde mit Hugo reden. Nur eine Sache – oder vielmehr zwei: Hugo würde niemals nackt Modell stehen, weil Nacktheit für ihn sündhaft ist; und Joe müßte sich für das Bild einen anderen Titel ausdenken.«
»Du kennst Joe nicht, Joan. Er wird den Titel nicht
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