Das Gesetz Der Woelfe
hineinzuschmuggeln.
Als er die Plane sorgfältig wieder feststeckte und den Hinterhof verließ, schickte die Sonne gerade ihre ersten Strahlen über die Dächer der Altstadt, die sich wie ein Schwalbennest von der Piazza aus nach oben und unten den Hang entlang zog. Filippo ging zurück zu seinem Mofa und wandte seinen Blick über die schmalen Häuser hinunter in die Ebene, die nach wenigen Kilometern abfiel und in einen tiefen Graben mündete. Die Schnellstraße nach Reggio di Calabria führte dort über eine weit schwingende Brücke weiter über die sanft abfallenden Hügel hinaus an die offene Küste. Dort unten schien bereits die Sonne, und im hellen Dunst konnte man das Meer sehen, milchig blau verschwamm es mit dem Horizont. Einer plötzlichen Eingebung folgend schwang sich Filippo auf sein Mofa und folgte der steilen Gasse hinunter durch die langsam erwachende Altstadt und dann auf der zweispurigen Via XX Settembre durch die Neubauviertel und die zona industriale mit den unzähligen, verblichenen Werbeplakaten am Straßenrand hinaus auf die sonnenbeschienene Hochebene. Er ließ die wenigen, flachen Industriebauten und verfallenen Bauernhöfe entlang der Ausfallstraße hinter sich und erreichte nach einer knappen Dreiviertelstunde auf der zu dieser Tageszeit noch kaum befahrenen Schnellstraße das Meer.
Er lief am morgendlichen Strand zwischen dem angeschwemmten Treibgut umher und bückte sich dann und wann, um eine Muschel aufzuheben und sie nach ein paar Schritten wieder fallen zu lassen, dann zog er sich kurz entschlossen aus und rannte ins Meer. Er schwamm im spiegelglatten Wasser, bis seine Glieder von der beißenden Kälte zu brennen begannen. Mit tropfenden Haaren und sandigen Füßen lief er zu seinen Kleidern zurück und streifte sie sich wieder über. Am Ende des Sandstrandes, zwischen den Pfeilern der Straße, die oberhalb entlangführte, war eine kleine Bar, nicht größer als eine Nische. Er stapfte durch den tiefen, feuchten Sand hinauf und setzte sich auf einen der weißen Plastikstühle neben der Betonbrüstung. Laute Musik klang aus einer Box, obwohl kein einziger Gast da war. Ein junges Mädchen mit glattem, schwarzem Haar und einem gepiercten Nasenflügel bediente ihn. Er bestellte eine Cola. Sie lächelte ihm zu, als sie das Glas vor ihn hinstellte, und Filippo dachte, dass sie nicht älter sein konnte als er. Er lächelte schüchtern zurück.
»Du kommst mir irgendwie bekannt vor. Bist du von hier?« Sie hatte ein knappes weißes T-Shirt an, das ihren glatten, gebräunten Bauch freigab.
Er schüttelte stumm den Kopf. Als sie ihn weiter neugierig ansah, deutete er mit einer knappen Geste nach hinten. »San Sebastiano.«
»Ach.« Sie lachte. »Ich komme aus Torre Calo.«
Überrascht hob Filippo den Blick. »Tatsächlich?«, fragte er ungläubig. Das Mädchen nahm ihm sein Erstaunen nicht übel, eher schien sie geschmeichelt. »Nun, nicht direkt aus dem Dorf, aus Borgo Rosato.«
Filippo nickte langsam. Er kannte Borgo Rosato, diesen Ortsteil von Torre Calo, der zum Rest des Dorfes passte wie die Faust aufs Auge. Vor etwa zwanzig Jahren hatte ein Bauunternehmen, mit welchem Geld und aus welchem Grund auch immer, begonnen, das armselige Dorf an der Kante des Aspromonte um ein »Luxusviertel« zu bereichern. Zehn, fünfzehn Häuser waren damals aus dem Boden gestampft worden, mitten in den Hang hinein, ohne Straße und ohne Abwasserversorgung, diese Nebensächlichkeiten waren erst ein paar Jahre später dazugekommen. Die Bürgermeister von Torre Calo und San Sebastiano hatte dies wenig gestört, und sie hatten die Häuseransammlung vollmundig als »Aufbruch in eine rosige Zukunft« bezeichnet und dabei auf die Farben des Sonnenuntergangs angespielt, der sich aufgrund der famosen Lage in sämtlichen Fenstern der villette di lusso spiegeln würde. Zur Bekräftigung dieser staatstragenden Vision wurden die Häuser, die tatsächlich fertiggestellt wurden, ohne dass die Baufirma pleite ging, in einem Zuckerbäckerrosa gestrichen, dem der spätere Name »Borgo rosato«, rosarotes Viertel, zu verdanken war. Die Käufer der villette, allesamt zu ein wenig Geld gekommene, junge Familien aus Catanzaro oder Reggio di Calabria, hatten sich vor dem Einzug offenbar kein näheres Bild von der Umgebung gemacht, sonst wäre ihnen aufgefallen, dass die Zufahrt zu ihren Häusern nur über einen sandigen, im Winter verschlammten Fahrtweg möglich war und die Toiletten keinen Anschluss hatten. Trotz dieser
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