Das Gesetz Der Woelfe
roch durchdringend nach Oliven. Die Jahre des erzwungenen Stillstandes hatten den Geruch nicht vertreiben können. Er stand einen Augenblick ganz still. Wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, die hier zwischen den alten Balken und groben Steinen noch herrschte. Als er endlich sein altes Versteck ausmachte, war es ganz plötzlich vorbei mit dem Gefühl, ein Mann zu sein. Er kroch hinter die alte Presse, tastete sich an der rauen Mauer entlang und fühlte sich genauso klein und einsam wie die ganzen Jahre zuvor. Er begann zu weinen.
Als die Sonne über die Gipfel des Aspromonte kroch und die steilen, kahlen Hänge in ihr klares Licht tauchte, fuhr Filippo mit seinem motorino bereits knatternd die kleine Straße von La Oliveta hinunter nach San Sebastiano. Er fuhr vorbei an Reihen knorriger Olivenbäume, deren gewundene Äste sich wie sehnige Arme in die Sonne streckten. Die zarten, schmalen Blätter bewegten sich leicht und zeigten ihre silberne Unterseite. Hoch stand das Gras zwischen den alten Bäumen, frisches, noch saftiges Grün, an manchen Stellen umgetreten oder niedergedrückt. Die Steinmauer, die den endlosen Garten von der Straße abgrenzte, war verfallen und von Unkraut überwuchert. Doch selbst, wenn sie irgendwann ganz verschwunden sein würde, von wilden Brombeerranken restlos zugedeckt, jeder in San Sebastiano würde wissen, wo das Land der Familie de Caprisi begann und wo es endete. Selbst wenn die Baronessa und ihr Enkel nicht mehr am Leben wären, würde es noch Generationen dauern, bevor dieses Wissen vergessen war. Der größte Grundbesitz in dieser Gegend, von San Sebastiano die Hügel hinauf, bis hinein in den Aspromonte reichten die Ländereien der de Caprisis, und wo immer es möglich gewesen war, hatten Filippos Vorfahren Olivenbäume gepflanzt. Sein Urgroßvater, der Vater seiner nonna, war besonders geschäftstüchtig gewesen. Er hatte gutes Geld verdient mit seinem Olivenöl, für hiesige Verhältnisse ein kleines Vermögen. Domenico de Caprisi war es auch gewesen, der das alte Haus hatte abreißen lassen und das große Steinhaus gebaut hatte, in dem Filippo und seine Großmutter wohnten. Filippo hatte zahlreiche Geschichten gehört von der Olivenernte, als seine nonna noch ein kleines Mädchen gewesen war. Ein Menge Helfer waren jedes Jahr gekommen und hatten mit ihren Familien für die Zeit der Ernte auf dem Anwesen gewohnt. Filippo konnte es sich kaum vorstellen. So viele Menschen. Kinder.
Jetzt war es den ganzen Tag still. Seit sieben Jahren bewohnten nur noch er und die nonna dieses große Haus. Im Winter beheizten sie nur die Küche, den salotto und ihre Schlafzimmer. Die anderen Zimmer fielen in Winterschlaf, ebenso wie die Olivenbäume. Und genauso wie diese, waren sie in den letzten Jahren immer zögerlicher erwacht. Bald würden die Zimmer das ganze Jahr über schlafen. Kühl, voll von alten Gedanken und Staub, der in der Nase kratzte. Die Bäume hatten diese Entwicklung schon vorweggenommen. Jahr für Jahr verfaulte zwischen dem hohen Gras ein kleines Vermögen. Jahr für Jahr hatte die nonna weniger Fläche bewirtschaften können, mit immer weniger Leuten, bis schließlich nur sie und Filippo übrig geblieben waren. Vor drei Jahren hatten sie das letzte Olivenöl gepresst, in den letzten Jahren nur noch die Oliven verkauft, zu erbärmlichen Preisen. Bald würde das Geld nicht mehr reichen, und dann musste die nonna zur Bank gehen und eine Hypothek aufnehmen, wenn sie nicht gleich verkaufte. Filippo hatte nicht verstanden, was daran so schrecklich sein sollte, dass die nonna bei dem bloßen Gedanken daran eine Herztablette oder einen Grappa schlucken musste. Doch sie hatte es ihm erklärt. Die Hypothek war der Anfang vom Ende, hatte sie ihm gesagt und ein zweites Glas geholt, in das sie ein winziges Schlückchen Grappa für ihn gegossen hatte. Waren das Haus und der Grund belastet, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis er seine Hand darauflegen würde. Und dann, hatte sie gesagt und sich noch ein wenig eingeschenkt, dann seien die de Caprisis endgültig besiegt. Zentnerschwer lag diese Last auf Filippo, seit er begriffen hatte, was das bedeutete. Er war der Letzte von ihnen. Er musste dafür sorgen, dass die de Caprisis nicht untergingen. Wie oft hatte er wach gelegen, voller Wut darüber, dass er nicht älter war, dass er nicht schon alt genug war, um etwas zu tun . Wie oft hatte er sich gewünscht, dieser Aufgabe gewachsen zu sein, und sie
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