Das Gesicht des Fremden
finden, wie er Menard die Bloßstellung ersparen konnte.
Da schwang die Tür auf, und Callandra Daviot marschierte herein. Sie wechselte einen Blick mit Hester, registrierte deren Erleichterung, sah die grenzenlose Verachtung in Fabias Augen, die grenzenlose Qual in Menards.
»Wir besprechen gerade eine Familienangelegenheit«, sagte Fabia unfreundlich. »Es gibt keinen Grund, weshalb du dich damit belasten solltest.«
Callandra ging an Hester vorbei und setzte sich hin.
»Falls du es vergessen haben solltest, Fabia: Ich bin eine gebürtige Grey – im Gegensatz zu dir. Wie ich sehe, ist die Polizei da. Vermutlich haben Sie etwas Neues über den Mord an Joscelin in Erfahrung gebracht – möglicherweise kennen Sie sogar den Mörder. Aber was tust du hier, Hester?«
»Ich habe eine Menge über Joscelins Tod zu sagen, was man jemand anderem wahrscheinlich nicht glauben würde.«
»Und warum haben Sie so lang damit gewartet?« stieß Fabia ungläubig aus. »Ich denke, Sie ziehen ein persönliches Vergnügen daraus, sich auf vulgäre Art und Weise in unsere Angelegenheit einzumischen, Miss Latterly, was wohl auf dieselbe Halsstarrigkeit zurückzuführen ist, die Sie veranlaßt hat, sich auf die Krim davonzumachen. Kein Wunder, daß Sie nicht verheiratet sind.«
Hester war schon Schlimmeres als vulgär genannt worden, und das von Leuten, deren Meinung sie wesentlich mehr interessierte als Fabia Greys.
»Weil ich nicht wußte, daß es von Bedeutung war«, erwiderte sie ungerührt. »Jetzt weiß ich es. Joscelin besuchte meine Eltern, nachdem mein Bruder auf der Krim gefallen war. Er erzählte ihnen, er hätte George in der Nacht vor seinem Tod eine goldene Uhr geliehen, und bat darum, sie zurückzubekommen, falls sie sich unter Georges Sachen befinden sollte.« Ihre Stimme wurde eine Spur leiser, ihr Rücken noch steifer. »Nun – es war keine Uhr unter Georges Sachen, und mein Vater schämte sich deshalb so sehr, daß er alles tat, um Joscelin zu entschädigen. Er gewährte ihm jederzeit seine Gastfreundschaft, willigte schließlich ein, sich finanziell an einem von Joscelin ins Leben gerufenen Unternehmen zu beteiligen – und veranlaßte seine Freunde, es ebenfalls zu tun. Das Unternehmen scheiterte, so daß mein Vater und seine Freunde ihr ganzes Geld verloren. Er ertrug die Schande nicht und nahm sich das Leben. Kurz danach starb meine Mutter. Der Kummer war zuviel für sie.«
»Ich bedaure den Tod Ihrer Eltern zutiefst«, warf Lovel ein, während er erst seine Mutter, dann wieder Hester ansah. »Aber was hat das alles mit Joscelins Tod zu tun? Für mich klingt das nicht ungewöhnlich: Ein Mann mit Ehrgefühl möchte wiedergutmachen, was sein gefallener Sohn einem Regimentskameraden schuldig geblieben ist.«
Hesters Stimme schwankte. Sie drohte die Fassung zu verlieren.
»Es hat nie eine Uhr existiert. Joscelin hat George nicht mal gekannt – genausowenig wie das andere Dutzend Männer, deren Namen ihm auf den Verlustlisten aufgefallen waren oder die er in Skutari sterben gesehen hatte. Ich habe ihn selbst dabei beobachtet, nur war mir damals der Grund dafür nicht klar.«
Alles Blut war aus Fabias Lippen gewichen. »Was für eine skandalöse, niederträchtige Lüge! Wenn Sie ein Mann wären, würde ich Sie auspeitschen lassen.«
»Mutter!« rief Lovel sie zur Ordnung, was sie jedoch überhörte.
»Joscelin war ein wunderbarer Mensch – beherzt, talentiert, amüsant und ausgesprochen charmant«, brach es aus ihr heraus.
»Jeder hatte ihn gern, ausgenommen die natürlich, die von Neid zerfressen waren.« Fabias Blick schoß mit einem an Haß grenzenden Ausdruck zu Menard. »Kleine, unbedeutende Männer, die nicht ertragen konnten, daß jemand ihre armseligen Bemühungen um Erfolg spielend in den Schatten stellte.« Ihre Lippen zitterten. »Lovel, weil Rosamond Joscelin liebte; er brachte sie zum Lachen – und zum Träumen. Und Menard«, fuhr sie mit harter Stimme fort, »weil er nicht mit der Tatsache leben konnte, daß ich Joscelin von Anfang an mehr geliebt habe als jeden andern.«
Sie schauderte, und ihr Körper schien zusammenzuschrumpfen, als würde er vor etwas furchtbar Schmutzigem zurückweichen. »Und jetzt taucht dieses Weib mit ihrer absurden, erfundenen Geschichte hier auf, und ihr steht einfach nur da und hört euch den Unsinn an! Wenn ihr Männer wärt, die diese Bezeichnung verdienen, würdet ihr sie hinauswerfen und wegen übler Nachrede zur Rechenschaft ziehen. Aber allem Anschein
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