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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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einzige Person – oder aber deren Briefe waren die einzigen, die es seiner Meinung nach wert gewesen waren, aufgehoben zu werden. Er öffnete den ersten und mußte verärgert feststellen, daß seine Hände dabei zitterten.
    Es war ein sehr schlichter Brief, der mit »Lieber William« begann, voll belangloser Neuigkeiten steckte und mit »deine dich liebende Schwester Beth« schloß.
    Die runden Buchstaben schienen zu lodern, als er den Brief benommen vor Aufregung und von Erleichterung überwältigt zur Seite legte. Vielleicht war er auch ein bißchen enttäuscht, doch dieses Gefühl wurde eilends verdrängt. Er hatte eine Schwester, es gab jemand, der ihn kannte, der ihn zeit seines Lebens gekannt hatte – mehr noch, der ihn gern hatte. Er nahm den Brief rasch wieder in die Hand und hätte ihn vor lauter Unbeholfenheit in seiner Hast beinah zerrissen. Ein netter, ein sehr offener, ja geradezu liebevoller Brief; kein Zweifel, niemand war so offen einem Menschen gegenüber, dem er nicht vertraute, den er nicht mochte.
    Dennoch wies der Inhalt in keiner Weise darauf hin, daß es sich um einen Antwortbrief handelte, er nahm keinerlei Bezug auf etwas, das er ihr geschrieben hatte. Und er hatte, oder? Unmöglich, daß er eine solche Frau kaltlächelnd ignoriert haben konnte.
    Und wenn doch? Wenn er sie tatsächlich ignoriert, ihr nicht geschrieben hatte, mußte es einen Grund dafür geben. Wie konnte er es sich erklären, sich rechtfertigen, wenn er sich an nichts erinnerte? Er kam sich vor wie ein Verbrecher, der unfähig, sich zu verteidigen, auf der Anklagebank saß.
    Die Minuten zogen sich endlos und qualvoll dahin, bis er plötzlich auf die Idee verfiel, nach der Adresse zu sehen. Als er es schließlich tat, war er endgültig verwirrt. Der Brief kam aus einem Ort in Northumberland. Er sagte den Namen immer wieder laut vor sich hin. Er klang vertraut, dennoch konnte er ihn geographisch in keiner Weise einordnen und mußte erst einen Atlas aus dem Bücherschrank holen, um ihn nachzuschlagen. Selbst dann fand er ihn nicht auf Anhieb. Es war ein sehr kleiner Ort, kaum lesbare Buchstaben direkt an der Küste – ein Fischerdorf.
    Ein Fischerdorf? Was hatte seine Schwester nur in ein solches Nest verschlagen? Hatte sie geheiratet und war dann dort hingezogen? Der Nachname auf dem Umschlag lautete Bannerman. Oder war er selbst dort geboren und später nach Süden, nach London gegangen? Er lachte abermals hart auf. War das der Schlüssel zu seiner Eitelkeit? Der Sohn eines Fischers aus der Provinz, der unbedingt etwas Besseres sein wollte?
    Wann? Wann war er hierhergekommen?
    Er stellte mit einem ziemlichen Schrecken fest, daß er keine Ahnung hatte, wie alt er war. Noch immer hatte er keinen Blick in den Spiegel riskiert. Weshalb? Fürchtete er sich davor? Was spielte es schon für eine Rolle, wie ein Mann aussah? Trotzdem zitterte er am ganzen Körper.
    Er schluckte schwer, bewaffnete sich mit der Öllampe, ging zögernd ins Schlafzimmer und stellte sie auf der Kommode ab. Irgendwo mußte ein Spiegel sein, wenigstens groß genug, um sich darin rasieren zu können.
    Der Spiegel war auf einem Ständer mit Drehgelenk befestigt; deshalb hatte er ihn vorher nicht bemerkt. Er stellte die Lampe kleiner und kippte den Spiegel langsam zu sich um.
    Das Gesicht darin war ernst und energisch, die Nase breit und etwas gebogen, der Mund groß. Die Oberlippe war ziemlich dünn, die untere eher voll, direkt darunter befand sich eine alte Narbe. Zwei graue Augen leuchteten ihm in dem flackernden Licht intensiv entgegen. Es war ein ausdrucksvolles, aber nicht unschwieriges Gesicht. Falls es Humor verriet, dann eher einen von der schroffen Sorte, der sich mehr in ironischen Bemerkungen als in Gelächter äußerte. Wahrscheinlich war er zwischen fünfunddreißig und fünfundvierzig Jahre alt.
    Er nahm die Lampe und kehrte ins Wohnzimmer zurück, ohne den Weg wahrzunehmen. Vor seinem geistigen Auge schwebte immer noch das Gesicht, das ihn aus dem trüben Spiegelglas heraus angestarrt hatte. Nicht, daß es ihm besonders mißfallen hätte, es war nur das Gesicht eines Fremden – eines Fremden, der nicht leicht zu durchschauen war.
    Am folgenden Tag faßte er einen Entschluß. Er würde in den Norden fahren, um seine Schwester zu besuchen. Sie konnte ihm zumindest etwas über seine Kindheit, seine Familie verraten. Außerdem schien sie ihn – ihren Briefen und dem Datum des letzten nach zu urteilen – noch zu mögen, ob er es nun verdiente

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