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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Finger eines Felsens geworfen hatte und an dessen berstenden Planken sich nun wer weiß wie viele Menschen klammerten, das Wasser schon bis zu den Hüften.
    Nachdem sie sich vom ersten Schock erholt hatte, rannte Beth wieder die Treppe hinauf, um sich anzuziehen. Sie forderte Monk im Vorbeikommen auf, das gleiche zu tun. Dann ging es nur noch darum, Decken aufzutreiben, Suppe warm zu machen, die Öfen wieder anzuwerfen, um den Überlebenden zu helfen – falls, so Gott gebe, welche da sein sollten.
    Die ganze Nacht wurde geschuftet, Rettungsboote fuhren hin und her, Menschen wurden aneinandergeseilt. Fünfunddreißig Personen konnten aus dem Meer gezogen werden, zehn blieben verschollen. Die Überlebenden wurden auf die wenigen Haushalte des Dörfchens verteilt. Beths Küche war voll totenbleicher, zitternder Menschen, die sie und Monk mit heißer Suppe und allen erdenklichen beruhigenden Worten überhäuften.
    Es wurde nicht geknausert. Beth gab den letzten Bissen her, ohne sich Gedanken darüber zu machen, was ihre eigene Familie am nächsten Tag essen sollte. Auch der winzigste trockene Kleidungsfetzen wurde hervorgekramt und weitergegeben.
    In einer Ecke saß eine Frau, die vor Kummer so betäubt war, daß sie den Verlust ihres Mannes nicht einmal beweinen konnte. Beth betrachtete sie mit einem Mitgefühl, das sie wunderschön aussehen ließ. In einem kurzen Augenblick zwischen zwei Handgriffen sah Monk, wie sie sich vorbeugte und die Hände der Frau nahm. Sie hielt sie ganz fest zwischen ihren, um etwas Wärme in das kalte Fleisch zu pressen, und redete beschwichtigend auf sie ein, als wäre sie ein Kind.
    Monk wurde sich schlagartig und schmerzhaft seiner Einsamkeit bewußt; er fühlte sich wie ein Außenseiter, der rein zufällig in dieses Passionsspiel um Leid und Mitleid geraten war. Er hatte nichts zu geben als körperliche Hilfe; er konnte sich nicht einmal erinnern, ob er etwas Derartiges vielleicht schon früher getan hatte, ob das hier wirklich seine Leute waren oder nicht. Hatte er jemals sein Leben riskiert – ohne zu fragen oder nachzudenken, wie Rob Bannerman es tat? Ein Teil von ihm sehnte sich entsetzlich nach der Befriedigung, die es mit sich bringen mußte. Hatte er jemals Mut oder Selbstlosigkeit bewiesen? Gab es irgend etwas in seiner Vergangenheit, worauf er stolz sein, woran er sich klammern konnte?
    Da war niemand, den er hätte fragen können…
    Doch der Moment ging vorüber, und die Dringlichkeit der Gegenwart nahm ihn wieder voll in Anspruch. Er beugte sich hinunter, um ein vor Angst und Kälte zitterndes Kind auf den Arm zu nehmen, wickelte es in eine warme Decke und hielt es fest an sich gepreßt, während er es mit sanftem Streicheln und leisen, immer gleichen Worten beruhigte wie ein erschrecktes Tier.
    Bei Tagesanbruch war alles vorbei. Die See ging immer noch schwer und rauh, aber Rob, zu müde zum Sprechen und deprimiert wegen der Menschenleben, die das Meer gefordert hatte, war zurück. Wortlos entledigte er sich seiner nassen Sachen und legte sich ins Bett.
    Nach einer weiteren Woche hatte Monk sich physisch vollkommen erholt. Nur seine Träume machten ihm zu schaffen. Sie handelten von Furcht und Schmerzen, von dem Gefühl, brutal geschlagen zu werden und das Gleichgewicht zu verlieren, und endeten jedesmal mit der Angst zu ersticken. Er schreckte dann schweißgebadet und nach Luft schnappend, mit Herzrasen und rasselndem Atem aus dem Schlaf, doch das einzige, was blieb, war die Angst. Nirgends ein Faden, den er aufrollen konnte, um seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Nach London zurückzufahren wurde immer dringlicher. Er hatte seine ferne Vergangenheit, seine Wurzeln aufgespürt, aber sein Gedächtnis war nach wie vor in jungfräuliches Schwarz gehüllt, und Beth konnte ihm auch nicht sagen, was er getrieben hatte, seit er von zu Hause fortgegangen war. Sie war zu der Zeit gerade erst den Kinderschuhen entwachsen gewesen. Er hatte ihr offenbar nur Belanglosigkeiten geschrieben und von nichtssagenden kleinen Begebenheiten berichtet, wie man sie ebensogut in Illustrierten und Zeitungen nachlesen konnte. Lediglich kleine Randbemerkungen hatten durchblicken lassen, daß sie und ihre Familie ihm nicht völlig egal waren. Dies war sein erster Besuch seit acht Jahren, was ihn nicht gerade mit Stolz erfüllte. Er mußte ein ziemlich gefühlskalter, ehrgeiziger Geselle sein. Hatte dieser Ehrgeiz ihn dazu getrieben, hart zu arbeiten, oder war er so arm gewesen? Nur zu gern

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