Die Legenden des Raben 02 - Elfenjagd
Erstes Kapitel
Unter einem freundlichen, leicht bewölkten Morgenhimmel öffnete sich das Osttor von Xetesk. Dreihundert Kavalleristen und Magier trabten hindurch, gefolgt von fünfzehnhundert Fußsoldaten und Dutzenden Wagen.
An der Spitze des Zuges, neben dem xeteskianischen Kommandanten Chandyr, ritt Rusau, Seniormagier und Angehöriger der lysternischen Delegation. Entsetzt betrachtete er das Durcheinander von Leichen und Kleiderfetzen, die das Gelände des ehemaligen, brutal geräumten Flüchtlingslagers bedeckten. Als die Pferde vorbeikamen, flogen die Aasvögel auf, und Fliegenschwärme summten zornig über dem verwesenden Fleisch. Es herrschte ein unbeschreiblicher Gestank.
»Seht nur, welches Zerstörungswerk Ihr angerichtet habt, Kommandant Chandyr«, sagte er. »Ihr habt Menschen vertrieben wie Tiere und dabei viele getötet.«
Keine Spur von Reue war Chandyr anzusehen, als er Rusaus Blick erwiderte. Er war Berufssoldat, hatte die Vierzig überschritten und war im letzten Jahrzehnt Zeuge vieler Kämpfe geworden. Pockennarben verunstalteten sein Gesicht,
und auf Kinn und Stirn prangten bleiche Schmisse. In seiner Rüstung aus verstärktem Leder bot er einen blutrünstigen Anblick, und sein Weltbild war schlicht.
»Zuerst waren sie Opfer, jetzt sind sie Parasiten. Wir müssen uns um unsere eigenen Probleme kümmern und können uns nicht noch die Sorgen anderer Leute aufhalsen. Dordover ist ein mächtiger Gegner.«
»Allerdings hättet Ihr auch beschließen können, diesen Leuten zu helfen, Holz für neue Häuser zu schlagen und Felder für neue Saaten zu pflügen. Die Feldschmiede hätten dazu beitragen können, dass diese Flüchtlinge neue Hoffnung schöpfen.«
»Häuser zu bauen, ist dem Tod im Kampf durchaus vorzuziehen«, räumte Chandyr ein, »aber wir müssen uns zunächst verteidigen, ehe wir uns in ganz Balaia verstreuen, um den Menschen zu helfen. Seid Ihr in der letzten Jahreszeit einmal durch das Land gereist?«
»Nein«, gestand Rusau. »Meine Pflichten hielten mich in Lystern fest.«
»Ihr solltet mit den Magiern reden, die hier eintreffen. Zwar trifft es zu, dass die Schwarzen Schwingen überall den Hass gegen uns schüren, doch das Land ist nicht ganz so stark zerstört, wie sie uns glauben machen wollen. Es gibt da draußen durchaus noch Schmiede und Holzfäller, ebenso Baumeister und Bauern. Das Land muss sich aus eigener Kraft erholen. Wir als Soldaten des Kollegs haben vor allem die Pflicht, unsere Grenzen zu schützen.«
»Dies ist jedoch ein Konflikt, der am Verhandlungstisch mithilfe von Vernunft und Beratungen beigelegt werden kann. Der Krieg gibt dem Hass nur immer wieder neue Nahrung. Und schließlich geht es auch um ganz einfache Dinge, oder?«
»Die Dinge, um die es geht, interessieren mich nicht. Ich bin für den Schutz von Xetesk zuständig.«
Rusau atmete tief durch. Vor ihnen erstreckte sich das schöne Reich der xeteskianischen Magier nach Nordosten in Richtung Lystern und nach Norden in Richtung Dordover. Kein Zweifel, es war eine liebliche Landschaft. Sie präsentierte sich in vielen Grünschattierungen – Bäume, Büsche, Farn und Gräser. Überall sprossen die ersten Frühlingsblumen und brachten die unerschöpfliche Kraft der Natur mit frischen Farben zum Ausdruck.
»Ich kann dem Einhalt gebieten«, sagte Rusau, und er glaubte tatsächlich fest daran.
»Wirklich?«, entgegnete Chandyr. »Genau wie die dordovanische Delegation? Was haben sie denn bisher zustande gebracht, einmal abgesehen von ihren unverschämten Forderungen, die in der Offiziersmesse für Heiterkeit sorgen?«
»Es liegt in der Natur aller Verhandlungen, mit dem Unerreichbaren zu beginnen und einen Kompromiss anzustreben.«
»Kompromisse!« Chandyr spie das Wort förmlich aus. »Wir verteidigen uns gegen einen Angriff, den wir nicht provoziert haben.«
»Demnach ist Xetesk Eurer Ansicht nach kein Vorwurf zu machen?«
Chandyr lief rot an. »Ihr reitet an meiner Seite, weil ich Euch schätze, Rusau. Und weil Dystran, der Herr vom Berge, einen unvoreingenommenen Bericht über das hören will, was wir vorfinden. Wir sind nicht die Aggressoren. Wir haben diesen Konflikt nicht vom Zaun gebrochen, er wurde uns vielmehr aufgedrängt. Es sind nicht unsere Streitkräfte, die Flüchtlinge in Nachbarländer treiben. Nicht wir sind es, die Unschuldige als Unterpfand einsetzen. Allerdings werden
wir nicht untätig zusehen, wie so etwas geschieht. Wir werden nicht zulassen, dass Dordover unser Land
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