Das Gewicht der Liebe
wollte mit ihm nur Augenkontakt haben. Ein Lächeln war noch nicht einmal auf ihrer Wunschliste.
»Du siehst verschlafen aus, Ryan. Bist du müde?«
Er zuckte die Achseln. Sie zuckten alle die Achseln. Auf alle Teenager schien weltweit das Gleiche zuzutreffen: Kör pergeruch, schlechte Haut und dieses Achselzucken.
Und keiner von ihnen schlief ausreichend. Roxannes Schüler teilten sich ihre Zimmer mit Geschwistern, Haustieren, Telefonapparaten, Fernsehgeräten und Computern. Sie wagte gar nicht zu fragen, womit noch. Viele, vielleicht sogar die meisten, hatten niemals regelmäßige Schlafens zeiten erlebt und vermutlich nicht mehr richtig ausge schlafen, seit sie gelernt hatten, aus ihren Kinderbetten zu klettern.
»Wenn du mit mir sprichst, wird es für uns beide einfacher werden. Wir kennen uns noch nicht …«
Er blickte auf. »Ich kenne Sie.«
Roxanne unterrichtete oft Geschwister, Cousins und Cousinen. Die Tatsache, dass ihr Ryans Nachname, Moline, nicht vertraut war, hatte nichts zu bedeuten. Im Lauf der Jahre gab es Scheidungen, Adoptionen, Pflegeeltern, Stieffamilien; und manchmal änderten Jungen und Mädchen ihre Namen willkürlich.
»Meine Cousine war in Ihrer Klasse. Taryn.« Sein Kiefer straffte sich. »Sie wurde erschossen.«
In der Vorbereitungsphase aufs neue Schuljahr hatte der Schulpsychologe dem Lehrerkollegium über ein junges Mädchen erzählt, eine frühere Schülerin von Roxanne, die im Wohnzimmer ihrer Eltern erschossen worden war, wo sie, unbemerkt von den anwesenden Erwachsenen, fern gesehen hatte.
Ryan verlagerte sein Hinterteil, rutschte auf dem Stuhl nach unten und krümmte seinen Rücken wie einen Schildkrötenpanzer. »Mein Onkel und dieser Typ, Chauncy, die haben gelabert, so von wegen, dass mein Onkel ihm Kohle schuldet. Und Chauncy, der hat eine fette Fünfundvierziger gezogen.«
Sie stellte sich den harten Knall eines Pistolenschusses vor, der im Wohnzimmer eines kleinen Hauses nachhallte, und den Geruch nach Kordit, der niemals aus den Vorhängen oder Polstermöbeln verschwinden würde.
Für manche Situationen gab es keine richtigen Worte. Welche Auswahl von Substantiven und Verben Roxanne auch zu einem Satz zusammenfügen würde, sie würden sich für Ryan einfach nur banal anhören. Sie erinnerte sich an Taryns Augen.
»Sie hatte schöne Augen.«
»Grün«, sagte er. »Wie Weintrauben.«
Nachdem er seinen Platz wieder eingenommen hatte, rief sie keinen weiteren Schüler mehr auf. Der Hilfskraft die Verteilung der persönlichen Fragebögen überlassend, ging Roxanne in die Aula, um Ty auf dem Handy anzurufen. Das Bild von Taryn, wie sie fernsah und weder von ihrem Vater noch von Chauncy bemerkt wurde, der Knall einer 45er Pistole, der von den Wänden des Wohnzimmers widerhallte, eine sich öffnende Tür und die Schreie einer Mutter bildeten den Soundtrack zu einem Film, der sich in ihrem Kopf abspielte. Ty ging nicht ans Telefon, und sie war zu entmutigt, um eine Nachricht zu hinterlassen.
Später, als sie mit Elizabeth in ihrem Klassenzimmer zu Mittag aß, hatte das Bild vom Tod des Mädchens noch nichts von seiner Intensität verloren.
»Sie war mitten im Zimmer, und niemand beachtete sie. Sie hätte genauso gut unsichtbar sein können.« Sie warf ihr Mittagessen in den Mülleimer, denn von dem Schinkengeruch drehte sich ihr der Magen um.
Elizabeth fischte ein Papiertaschentuch aus ihrer Handtasche und reichte es Roxanne über das Pult hinweg.
Roxanne hatte geplant, das Schuljahr mit der Lektüre eines Romans für junge Erwachsene zu beginnen, ein Roman, der auf der Geschichte von Cyrano de Bergerac basierte. Zur Anregung und Unterhaltung hatte sie einen Film bestellt, eine Steve-Martin-Komödie, die Cyranos Geschichte nacherzählte. Später im Schuljahr würden zwei Schauspieler aus San Diego die Klasse besuchen und mehrere Szenen aus dem klassischen Stück spielen. Es würde sogar eine Fecht-Vorführung stattfinden.
»Aber ein Junge wie Ryan schert sich wahrscheinlich einen Dreck um Cyrano. Vielleicht sollte ich etwas heraussuchen, das mehr Biss hat, mehr …«
»Was? Bedeutsamkeit? Damit Ryan vergisst, dass man seiner Cousine in den Kopf geschossen hat? Das wird nicht passieren. Und der arme alte Cyrano ist so weit außerhalb seiner Erfahrung, dass es genau das Richtige sein könnte, was der Junge jetzt braucht. Steve Martin wird ihn vielleicht zum Lachen bringen.«
Elizabeth war eine kluge und erfahrene Lehrerin, die trotz ihrer kleinen Statur ein
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