Das Gewicht der Liebe
stieß, die mitten im Familienzimmer stand.
Simone sagte: »Ich wusste, dass du kommen würdest.«
»Du hast Franny gefeuert und anschließend Johnny von der Arbeit wegbeordert? Du bist völlig daneben, Simone. Total übergeschnappt.«
»Er wird bei der Agentur anrufen und jemand Neuen einstellen.«
»Den Ärger kannst du ihm sparen. Du rufst jetzt sofort Franny an, ich werde die Nummer wählen. Entschuldige dich bei ihr, und gib ihr einen Sonderzuschlag.«
»Warum sollte ich? Ich habe mir nichts vorzuwerfen.« Simone scheuchte Roxanne aus dem Familienzimmer und am Eingang vorbei zu ihrem Arbeitszimmer, das direkt an Johnnys Büro angrenzte. »Ich muss mit dir unbedingt über eine andere Sache reden.«
»Warum flüsterst du?«
Simones Arbeitszimmer war ein erdrückend femininer Raum, ein Wirrwarr aus Blütenornamenten und Streifen in Pastellblau und Rosa, in dem Roxanne Mühe hätte, irgendetwas Sinnvolles zustande zu bringen. Simone schloss die Tür und sperrte sie ab, nahm einen tiefen, hörbaren Atemzug und trat hinter ihren damenhaften Schreibtisch – zu klein, um jemandem dienlich zu sein, der tatsächlich daran arbeiten musste. Abwesend begann sie durch den Stapel an ungeöffneter Post zu blättern.
»Sieh mich an, Simone. Was ist los? Warum hast du sie gefeuert?«
»Ich hatte es satt, dass sie sich ständig so aufspielt, als würde sie meine Familie besser kennen als ich selbst. Außerdem hat sie mich wie eine Behinderte behandelt. Wie eine Idiotin.« Simone blickte von der Post auf, und ihr jähes Grinsen fegte Jahre aus ihrem Gesicht. »Ich bin letzte Woche auf einen Baum geklettert, also pass verdammt noch mal auf, was du sagst.«
»Du könntest auch auf einen Berg klettern und hättest trotzdem nicht so ein Talent für Kinder wie dieses Mädchen.« Roxanne erkannte die Selbstherrlichkeit wieder, die Simones manische Ausbrüche oft begleitete. Es war völlig unklar, wohin ihre Stimmung als Nächstes kippen würde. Simone konnte binnen Minuten von Hilflosigkeit zu unrealistischer Zuversicht bis hin zu abgrundtiefem Elend umschwenken. Unter solchen Umständen würde Roxanne normalerweise behutsam vorgehen, aber heute konnte sie darauf keine Rücksicht nehmen. »Du kommst ohne sie nicht zurecht.«
»Wann hat mir das letzte Mal jemand eine Chance gegeben?«
»Sie war die beste Nanny der Welt. Ein wahrer Schatz. Wer soll sich jetzt um die Kinder kümmern?«
Und wer soll sich um dich kümmern? Roxanne wusste, dass sie die Antwort auf diese Frage bereits kannte.
Simone griff in ihre Handtasche und reichte Simone ein Foto, eine Ultraschallaufnahme, gesprenkelt und ver schwommen, als wäre sie an einem verschneiten Tag durch eine Windschutzscheibe aufgenommen worden. Roxanne machte die Knospe einer Stupsnase aus, eine vorgewölbte Stirn, einen Arm.
»Falls du nach dem Gebimmel Ausschau hältst«, sagte Simone, »vergeudest du deine Zeit. Es ist wieder ein Mädchen, und du weißt, was das bedeutet. Sobald sie auf der Welt ist, muss ich diese ganze beschissene Sache erneut durchmachen.«
Simones Launen waren unbeständig wie Quecksilber. Sie konnte gerissen sein und sie war oft geheimnistuerisch, aber in gewisser Weise war sie vorhersehbar. Fluchen war immer ein schlechtes Zeichen.
»Hör auf zu jammern. Lass deine Eierstöcke abschnüren oder nimm die Pille.«
»Ich habe einen anderen Plan.« Simone schnappte sich das Foto und warf es in den Papierkorb neben dem Schreibtisch. »Deshalb habe ich Merell gesagt, sie soll dich anrufen. Du warst in letzter Zeit so pampig …«
»Ich habe gerade ein ganzes Wochenende mit dir verbracht!«
»… deshalb glaube ich nicht, dass du gekommen wärst, wenn ich angerufen hätte.«
»Was für einen Plan?«
»Als ich heute diese Diskussion mit Franny hatte, war plötzlich dieses Gefühl in mir. Ich kann nicht erklären, wie es funktioniert, aber es ist so, als würde man etwas wissen, ohne darüber nachdenken zu müssen. Das Gefühl dringt einfach in mich ein, und ich weiß, was ich zu tun habe. Ich weiß es .«
Das ist nicht gut, dachte Roxanne.
»Was hat das alles mit Franny zu tun?«
»Du kapierst es nicht, Rox, weil bei dir immer alles reibungslos klappt. Für dich ist die Welt berechenbar, in Abschnitte gegliedert und alphabetisch geordnet.« Simones Mund verhärtete sich zu einem Strich. »Aber stell dir vor, wie es für jemanden wie mich ist, für den nichts berechenbar und geordnet ist. Und dann macht es in meinem Kopf plötzlich klick, und ich
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