Denn das Glueck ist eine Reise
Dienstag, 21. Oktober
London
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Der Vibrationsalarm des Handys riss Adèle aus einer gähnenden Langeweile. Es war strengstens verboten, das Handy in solchen Situationen eingeschaltet zu lassen. Das wurde ja oft genug betont. Zum Glück hatte Adèle nicht vergessen, es auf lautlos zu stellen. Schließlich hatte sie heute Geburtstag. Sie wurde dreiundzwanzig Jahre alt und war gespannt, welche ihrer Freunde sich wohl daran erinnern würden. Bis jetzt waren es enttäuschend wenige. Ab und zu vergewisserte sie sich, dass niemand sie beobachtete, und warf schnell einen Blick auf das Display ihres Handys, das kaum aus der Tasche ihrer Jeans herausragte. Um die neue SMS zu lesen, musste sie einen günstigeren Moment als diesen abwarten, denn im Nebenzimmer sprach der Inspektor gerade von Mord.
Adèle hatte sich auf dem langen, düsteren Korridor, der zum Schlafzimmer führte, auf eine unbequeme Kiste gesetzt. Nur ein paar Straßengeräusche drangen herein: ein Motorroller, ein Lastwagen, ein Hund, ein Martinshorn in der Ferne. Sie spähte in das Zimmer, das von einem Lichtkegel beleuchtet wurde, und sah die Staubkörner darin tänzeln. Ein schön gearbeitetes französisches Bett aus dunklem Holz, die dicke Daunendecke, eine rosarote Hügellandschaft aus Satin, und der Tote, der einen Pyjama im Stil der Vierzigerjahre trug, mit fahlem Gesicht und der tragischen Miene eines Ermordeten. Denn hier handelte es sich um Mord, da war der Inspektor ganz sicher. Er hatte es vier Mal wiederholt. Das Insulin für die täglichen Spritzen des alten Mannes war mit seinen Augentropfen vertauscht worden. Die Fläschchen standen noch da und bewiesen es. Das Opfer war dreiundachtzig Jahre alt und hinterließ seiner Familie ein gewaltiges Vermögen und dieses große Haus in London, in dem sie alle wohnten. Immer, wenn der Polizist das Wort »Verbrechen« aussprach, brach seine Enkeltochter in Tränen aus. Ihr Verlobter nahm sie in die Arme, um sie zu trösten, doch es war vergebliche Liebesmüh. Die junge Frau kniete vor dem Bett auf dem Boden und hatte den Kopf auf die Daunendecke gelegt. Sie hielt die Hände des Toten, stammelte wirres Zeug und brach manchmal in lautes Schluchzen aus, das beinahe lächerlich wirkte. Sie erging sich in Wehklagen und Kindheitserinnerungen und äußerte vor allem Bedauern. Die Liste war lang, besonders, da sie diese bereits zum vierten Mal wiederholte. Eine würdevolle alte Dame stand kerzengerade neben dem Bett und hob und senkte den Kopf im Rhythmus der bedauernden Worte, die die junge Frau wie einen Rosenkranz herunterleierte. Es war ihre Großtante, die Schwägerin des Toten. Hinter der Tür standen schweigend noch andere Personen. Der Inspektor sagte es noch einmal: Der Täter stammt aus dem Kreis der Familie. Das war also wirklich nicht der passende Moment, um sich die SMS anzusehen.
Es war nicht Adèles erste Mordszene. Sie langweilte sich entsetzlich, und während sie darauf wartete, dass die Szene abgedreht wurde, ließ sie die Gedanken schweifen. Kurz bevor ihr Handy vibrierte, war ihr aufgefallen, dass die junge Frau, die im Schlafzimmer weinte, ihr ein bisschen ähnelte. Sie waren gleichaltrig, hatten beide langes, dickes braunes Haar und eine schlanke Figur. Die junge Frau in dem Schlafzimmer war zwar nicht unbedingt hübscher als sie, aber besser gekleidet und sorgfältiger zurechtgemacht. Sie hatte zarte Hände und war es gewohnt, die Blicke auf sich zu lenken. Im Vergleich zu ihr war an Adèle trotz ihrer ebenmäßigen Gesichtszüge eher ein Junge verloren gegangen. Außerdem war sie nicht reich, und niemand schenkte ihr große Beachtung. Nicht einmal an ihrem Geburtstag. Der Tote dagegen war mit Irving Ferns so gar nicht vergleichbar. Sie besaßen überhaupt nicht dasselbe Format. Irving Ferns. Beim Gedanken an ihn schnürte sich ihr Herz zusammen.
Adèle kam um vor Ungeduld. Wer hatte ihr diese Nachricht geschickt? Der junge Anwalt, den sie vor einem Monat auf einer Party kennengelernt hatte? Aber woher sollte er wissen, dass sie heute Geburtstag hatte? Sie schaute sich um. Auf dem Flur standen viele Leute, bestimmt an die dreißig, die sich nicht rührten, aus Angst, die Bodendielen könnten knarzen. Einige kratzten sich an der Nase, und andere kauten auf den Fingernägeln. Sie verständigten sich mit Gesten, denn selbst Flüstern war hier nicht angebracht. Aber niemand schien Adèle zu beachten. Sie überzeugte sich noch einmal davon, dass die Kommandanten der Stille
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