Das Gewicht der Liebe
war zur Stelle gewesen, um ihn zu bedau ern. Offenbar wollte er von ihr hören, es tue ihr leid, dass sie nicht da gewesen sei, als er sie brauchte. Aber obwohl sie sich die Mühe machte, blieben ihre Worte blass, da ihr Herz zu voll mit ihren eigenen Problemen war. Als er einigermaßen besänftigt zu sein schien, erzählte sie ihm über ihr eigenes Wochenende, bemühte sich weder witzige noch philosophische Kommentare einfließen zu lassen, während sie die vielen Tiefpunkte des Wochenendes aufzählte und gleichzeitig ihre Wäsche in die Maschine warf und die Küche aufräumte.
Er hörte ihr nicht zu.
»Was ist los?«
»Erzähl ruhig weiter, ich bin ganz Ohr.« Er stand an der Küchentheke, sah den Stapel an Katalogen durch, die zum Großteil an sie adressiert waren.
»Was habe ich als Letztes gesagt?«
»Lass mich mal wild drauflosraten. Du hast über deine Schwester geredet?«
»Tut mir leid, wenn ich dich gelangweilt haben sollte.« Die Plastikflasche mit Geschirrspülmittel glitt ihr aus den Händen und landete auf dem Küchenboden, verursachte eine klebrig grüne Pfütze. »Scheiße!«
»Ja, finde ich auch.«
Er schnappte sich seine Schlüssel vom Haken neben der Tür.
»Wo gehst du hin?«
»Ins Labor.«
»Aber du sagtest doch, man kann nichts …«
»Warte nicht auf mich, Roxy. Ich will auch später nicht reden.«
Am nächsten Morgen stand er zeitig auf und war aus dem Haus, bevor Roxannes Wecker um sechs Uhr klingelte. Chowder hatte er mitgenommen. Sie polterte im Haus he rum, tat sich selbst leid – kein Hund, kein Mann, nur noch einen Tropfen Milch im Karton. Auf dem Weg zur Schule legte sie eine Kaffeepause ein und ließ sich zu einem Donut hinreißen, den sie schon kurze Zeit später, als sie ein von Zucker, Hefe und Mehl pelziger Gaumen und ein gluckernder Bauch plagten, heftig verwünschte. Und sie gab Ty die Schuld dafür, dass dieser Morgen, der so großartig hätte sein können, so komplett ruiniert war.
Die Balboa Middle School war in San Diegos ältestem Schulgebäudekomplex untergebracht. In Roxannes Flügel gab es keine Klimaanlage, aber die Fensterwand in Raum 110 konnte mithilfe eines langen Hakenstabs aufgekurbelt werden. Vier Deckenventilatoren mit fünfundzwanzig Zen timeter langen Flügeln bewegten die Luft. Zirkulierende Luft und eine Wandseite mit natürlichem Licht waren Vorzüge, die Roxanne jeden Tag neu zu schätzen wusste. Sie glaubte, sie sei eine bessere, geduldigere Lehrerin, weil sie von jedem Punkt des Raumes aus den Himmel und Bäume sehen konnte.
Doch um heute eine gute Lehrerin zu sein, würden Luft und Licht allein nicht genügen. Normalerweise ging sie einen ersten Schultag vor einer neuen Klasse immer hoch motiviert und positiv gestimmt an; aber diesmal hatte sie nur die negativen Seiten vor Augen. Sie musste fünf unddreißig Namen auswendig lernen, eine neue Hilfskraft anlernen, die vorgeschriebenen Wissenstests durchführen, kleinere Aufstände ersticken und gegen die Technik ankämpfen. Handys jeder Machart: AUS . BlackBerrys und Apples und jede andere Marke: AUS . Keine E-Mails. Keine SMS . Kein Surfen. Kein Twittern. Der möglichen Unruheherde gab es kein Ende.
Sie checkte ihr Telefon, um zu sehen, ob eine Nachricht von Ty eingegangen war. Nichts.
Wenn man alle Tage des Schuljahres betrachtete, minus der Montage und Freitage und der Ferien sowie der Tage unmittelbar vor und unmittelbar nach den Ferien, so fand, wie Roxanne dachte, das wahre Lernen an den Dienstagen, den Mittwochen und den Donnerstagen zwischen den Weihnachts- und den Frühlingsferien statt. Der erste Tag des Schuljahrs war in erster Linie der Klassenordnung vorbehalten, und Roxanne hatte gelernt, sich vernünftige Ziele zu setzen und sich von kleinen Erfolgen zu nähren. Ihr heutiges Ziel war es, falls sie die nötige Energie und das Lächeln aufbringen könnte, mit jedem einzelnen Schüler persönlich zu sprechen. Der Junge, der gerade auf dem Stuhl neben ihrem Pult lümmelte, war Nummer elf. Toll. Sie hatte nur noch vierundzwanzig vor sich.
Der Junge, ein hoch aufgeschossener Schwarzer mit beginnendem Oberlippenbart, war ein typischer, verdrossen dreinblickender Teenager, wie Roxanne sie zuhauf kennen gelernt hatte. In einigen Jahren würde er ganz annehmbar aussehen, aber im Moment passte nichts an seinem Körper und seinem Gesicht zusammen. Die Notiz in seiner Akte besagte, er sei »mürrisch und unkommunikativ«, was für einen dreizehnjährigen Jungen ziemlich normal war. Sie
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