Das Gift des Boesen
kleineren Baumstamm, und Nona fragte, die Augen mit der Hand gegen die grelle Helligkeit beschattet: »Du erwartest eine Erklärung? Für Mayab?«
Lilith schüttelte den Kopf. »Nein. Nicht für Mayab. Es wäre doch nur eine weitere Lüge .«
Nona legte den Kopf schief. »Du hast dich wirklich sehr verändert. Aber ich wage nicht zu glauben, daß es stimmt, was Gabriel mir sagte.«
»Was hat er gesagt?«
»Daß du, wenn du mich aufweckst, die . Seiten gewechselt hättest.«
»Er wußte, daß ich dich wecke?«
»Er weiß alles.«
»Niemand weiß alles.«
»Gabriel schon.«
»Ich dachte, du schwärmst nur für Landru ...«
»Ich schwärme nicht für dieses Wesen. Aber ich weiß jetzt mehr von ihm, und dieses Wissen, diese wiedergefundene Erinnerung bestätigt seine Schläue - und seine Möglichkeiten.«
»Wiedergefundene Erinnerung?«
Nona nickte bedächtig. »Ich bin Gabriel vor langer Zeit schon einmal begegnet. Vor mehr als dreihundert Jahren. Damals trug er einen anderen Namen - und er besaß einen anderen Körper. Ich habe ihn dennoch wiedererkannt.«
»Ein Allwissender und eine Gedächtniskünstlerin ...«, raunte Lilith verächtlich.
»Spotte nur. Aber er hat mir eine Erinnerung wiedergegeben, während ich hier in dem Baum auf dich wartete. Sie umfaßt einen Monat in meinem Leben, der mir immer fehlte. Trotzdem hätte ich nicht im Traum daran gedacht, daß es an ihm liegen könnte.«
»Du klingst wie jemand, der den Verstand verloren hat.«
Nona zuckte die Achseln, um zu demonstrieren, wie wenig sie der Eindruck scherte, den sie vermittelte. »Hör zu und urteile danach«, sagte sie.
»Zuhören - wobei?«
»Ich werde dir erzählen, was mir träumte.«
Lilith zögerte, machte dann aber eine einwilligende Geste. »Dir ist nicht zu helfen. Du glaubst, wir stünden auf derselben Seite - du glaubst es, weil er es dir gesagt hat . Nein, dir ist wirklich nicht zu helfen.«
»Vielleicht. Aber hör mir zu.«
»Ist es eine lange Geschichte?«
»Sagtest du nicht, du seist nicht in Eile?«
»Das bezog sich auf das Töten meiner Feindin.«
Nona runzelte kurz die Stirn. Offenbar kamen ihr nun doch Zweifel an Liliths Veränderung. Bevor sie sich aber in ihr festsetzen konnten, begann sie, ihren Traum zu schildern. Den Traum, den sie für bare Münze nahm.
Kleine Närrin, dachte Lilith. Aber sie hörte zu. Sie hörte sich die Geschichte von Anfang bis zum Ende an, ohne Nona ein einziges Mal zu unterbrechen .
*
Vergangenheit, 1635
Erinnerungen einer Wolfsfrau
Einer der letzten September-Tage. Der Abend ist mild, als wir das Lager bei einer verfallenen Ruine zwischen Ruscino und Perpignan aufschlagen. Meine Geburtsstadt liegt nur noch einen Katzensprung entfernt.
»Du willst wirklich noch einmal Rast einlegen - so nah vor dem Ziel?« fragt mein Begleiter, dem allein ich es verdanke, noch zu leben, nicht längst als bleiches Gerippe in einem dunklen Grab zu mo-dern - eineinviertel Jahrhunderte nachdem ich das Licht der Welt erblickte. Dort drüben hinter den Hügeln, in der alten Pyrenäenstadt, die einmal das Herz des mallorquinischen Königreichs war, viele Menschenleben zuvor.
»In drei Nächten strahlt der Mond im vollen Rund«, entgegne ich. »Erst dann entfalte ich Kräfte, mit denen ich dir beistehen kann. Wir haben es also nicht so eilig, oder? Ein Tag mehr oder weniger, was zählt das schon? Der Unhold, heißt es, treibt seit etlichen Wochen sein Unwesen, und er ahnt nichts von unserem Kommen .«
Philippe, der Kutscher, tritt zu uns. In seinen Augen spiegelt sich die untergehende Sonne - und die Ahnung, daß auch er untergehen wird, sobald sein Herr und Meister keine Verwendung mehr für ihn hat.
Landru hat ihn rekrutiert und in hypnotischen Bann geschlagen, gleich nachdem wir Madrid verließen. Seither geht er uns zur Hand.
Er ist ein ausnehmend hübscher Junge, sehr geschickt überdies, und gewiß konnte er sich, ehe er uns begegnete, seiner Verehrerinnen kaum erwehren.
»Ich habe die Pferde ausgeschirrt.« Philippes Augen achten mich nicht. Sein Blick saugt mit derselben rauschhaften Begierde an Land-ru wie ein Vampir an der offenen Ader seines Opfers. Dieser junge Mann ist unser ergebener Diener. Ja, auch mir ist er zu bedingungslosem Gehorsam verpflichtet - weil Landru es ihm aufgetragen hat. »Soll ich jetzt das Feuer machen?«
»Ja.« Der Tonfall meines unsterblichen Geliebten verrät, daß ihm die Weisungen, die er Philippe erteilen muß, weil dieser nichts mehr allein zu
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