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Das giftige Herz

Das giftige Herz

Titel: Das giftige Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Virginia Doyle
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Zaun erreichen.
    Pistoux sah über den Zaun hinweg und entdeckte einen Schatten, der über den Nachbarhof huschte. Dann einen zweiten, der ihm folgte.
    Der Bäcker schwenkte jetzt den Knüppel über dem Kopf und brüllte laut: »Gesindel! Diebe! Verbrecher! Gottverdammte Spione und Halsabschneider! Betrügerpack, elendes!« Dann rutschte er auf dem glitschigen Boden aus und schlug der Länge nach hin.
    Aus einem am Boden liegenden Fass kletterte eine Gestalt, richtete sich auf und wollte die Gelegenheit nutzen, um zu entkommen. Doch der Raum zwischen dem wütenden Bäcker und der Lücke im Zaun war zu klein. Die kleine Gestalt versuchte es trotzdem. Der Bäcker bekam seinen Widersacher zu fassen und brüllte noch lauter als vorher: »Lump! Ich werde dich Mores lehren!« Er hob den Knüppel und ließ ihn auf den Rücken der kleinen Gestalt sausen, die er mit der anderen Hand am Genick gepackt hatte. Ein schriller Schmerzensschrei schallte durch den Hinterhof. Mit einem Mal war die Bäckersfrau neben Pistoux und beugte sich neben ihm aus dem Fenster.
    »Friedrich!«, schrie sie in den Hof hinab. »Hör auf! Du schlägst ihn ja tot!«
    »Ja! Totschlagen, totschlagen, tot, tot!«, brüllte der Bäcker, und bei jedem »tot« schlug er wieder mit dem Knüppel zu.
    »Friedrich!«, schrie Frau Dunkel jetzt mit einer lauten Stimme, die Pistoux ihr niemals zugetraut hätte: »Hör auf damit! Sofort!«
    Der Bäcker hielt inne, blickte nach oben. Die kleine Gestalt unter ihm nutzte den Moment, riss sich los und krabbelte in Windeseile auf das Loch im Zaun zu. Als der Bäcker es bemerkte, sprang er hinterher, rutschte aus und verlor seinen Knüppel. Noch bevor er sich wieder aufgerichtet hatte, war die kleine Gestalt durch die Zaunlücke verschwunden.
    Friedrich Dunkel brüllte ihm drohend hinterher: »Ja! Kommt nur wieder! Kommt nur wieder!«
    Oben im zweiten Stock drängte seine Frau ihren Gast vom Fenster weg. Sie war kreidebleich im Gesicht.
    »Es ist nichts«, sagte sie, »nichts von Bedeutung … nur ein paar Gassenjungen … sonst nichts …«
    Dann lief sie ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer und ließ Pistoux allein.

3 CHRISTKINDLESMARKT
    Die Dächer der Buden auf dem Hauptmarkt waren wie mit Puderzucker überzogen. Es war kalt genug, dass der feine Schnee für eine Weile liegen bleiben konnte. Inspektor Wanner stand vor der »Käse-Handlung Heinr. Bückner« am östlichen Ende der Kolonnaden, die die nördliche Hälfte des Hauptmarktes einrahmten.
    Über die schneebedeckten Budendächer hinweg sah er die beiden spitzen Kirchtürme der Sebalduskirche, die wie Bleistifte in den Himmel ragten. Die Bleistifte Gottes, dachte Wanner. Sie schreiben nichts in den Himmel, stehen einfach nur da. Das Schreiben überlässt der liebe Gott seinen Pfaffen, und die schreiben seit Hunderten von Jahren die Bibel um, wie es ihnen passt. Wanner schüttelte missbilligend den Kopf. Jetzt geht das schon wieder los, dachte er. Wieso bin ich kein braver Kirchgänger wie die anderen, wieso glaube ich denen nichts? »Sei nicht so schwermütig«, hatte seine Frau ihm gesagt, und dann war sie gestorben. Es war ihr letzter Satz gewesen, und dann hatte sie ihn verlassen. Nur noch ein leerer Körper war übrig geblieben. Sei nicht so schwermütig! Wanner lachte traurig vor sich hin. Nach ihrem Tod war er erst richtig schwermütig geworden. Monatelang hatte er in Münchens Wirtshäusern gesessen und getrunken und dabei seine Arbeit vernachlässigt. Als die Vorgesetzten ihn vorluden, war er nicht gekommen. Als sie ihn abholen ließen, hatte er sich mit Händen und Füßen gewehrt.
    Sie steckten ihn in eine Anstalt, wo man ihm das Trinken abgewöhnte. Aber die Schwermut war geblieben, sosehr sich auch der Seelsorger der Anstalt um ihn bemüht hatte. Es hieß, er sollte wieder arbeiten, um auf andere Gedanken zu kommen. Man schickte ihn nach Nürnberg, zu den Protestanten. Es kam einer Abschiebung gleich, aber er hatte sich ohne zu Murren in die Überlandkutsche gesetzt und war ins Fränkische gereist. Irgendetwas musste er ja tun, und er hatte nur einen Beruf gelernt – Verbrechensaufklärung. Kriminelle gab es überall, also war jeder Ort gleich gut oder schlecht.
    Gegen diese »dumme Weinerlichkeit«, wie er es selbst nannte, gab es nur ein Mittel. Etwas essen. Wanner setzte sich in Bewegung. Er hatte es sich verdient. Es war ein unangenehmer Tag gewesen. Zuerst die Leiche im Graben, dann das Gespräch mit dem Mediziner im Leichenschauhaus, der die

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