Töte, wenn du kannst!: Kriminalroman (German Edition)
Erster Teil
Der 17. August 2007 begann harmlos. Sie frühstückten zusammen. Lucie thronte auf ihrem Hochstuhl und kaute auf einem Stück Brot mit Frischkäse herum. Sie war ein zartes, hübsches Kind. Ihr herzförmiges Gesicht mit dem niedlichen Schmollmund wurde von großen blauen Augen beherrscht, weshalb Leander irgendwann bemerkt hatte, dass seine Tochter einem dieser Äffchen glich, die es nur auf Madagaskar gab. Seitdem nannten sie Lucie manchmal ihren kleinen Mausmaki.
Leander trank den letzten Rest des Milchkaffees aus. Seit Tinka die Zeitung abbestellt hatte, wirkte er morgens immer etwas verloren, als wüsste er nicht, wohin mit seinen Blicken. Jetzt stand er auf und sagte: »Was plant ihr beiden Frauen denn heute Schönes?«
Tinka machte es nur noch schlimmer und sagte mit derselben künstlichen Munterkeit, sie habe vor, mit Lucie in die Stadt zu fahren und sich das Kinderprogramm im Botanischen Garten anzusehen. »Für die meisten Sachen wird sie noch zu klein sein, aber vielleicht finden wir was, nicht wahr, mein Mäuschen?«
Diese falschen Töne gab es zwischen ihnen erst seit dieser Sache . Als wären sie ihre eigenen Karikaturen und müssten einem unsichtbaren Publikum ein glückliches Familienleben vorspielen.
Leander stand auf, zog das Sakko über und klemmte sich die Aktentasche unter den Arm. Lucie fing an, aus Leibeskräften zu brüllen und fegte ihren Plastikteller vom Tisch. Neuerdings machte sie jeden Morgen Theater, wenn Leander das Haus verließ. Der verharrte unschlüssig zwischen dem plärrenden Kind, das ihm die Arme entgegenstreckte wie ein Ertrinkender, und der Küchentür.
»Geh nur, ich mach das schon«, erlöste ihn Tinka.
Erleichtert zerzauste Leander seiner Tochter die hellblonden Locken, dann drückte er Tinka einen Kuss auf die Wange. Die Haustür fiel zu. Tinka klaubte Brotstückchen vom Boden auf. Noch immer schrie Lucie wie am Spieß.
Sie war ein Papakind. Tinka hatte mal irgendwo gelesen, dass das in dem Alter normal sei.
Lucies Wutgeheul war bis auf die Straße zu hören. Leander blieb stehen, wartete. Herrgott, warum unternimmt Tinka nichts? Sie kann das Kind doch nicht einfach schreien lassen! Er war kurz davor, umzukehren, als das Gebrüll abrupt abbrach. Leander hielt den Atem an. Was war passiert? Sie wird doch nichtAber da hörte er durch das gekippte Fenster Tinkas Stimme, brummig verstellt in der Rolle des kleinen Stoffaffen, und gleich darauf ein glucksendes Lachen von Lucie. Erleichtert und beschämt zugleich ging Leander los. Dieses Lachen war das Letzte, was er von seiner Tochter hörte.
Nein, nicht ganz. Gegen Mittag klingelte sein Telefon. Er kam gerade mit Eyja de Lyn, einer recht bekannten Fantasy-Autorin, aus dem Aufnahmestudio und begleitete sie zurück in sein Büro, wo sie Jacke und Handtasche zurückgelassen hatte. Tinka war dran. Sie sei in der Stadt und frage sich, was sie fürs Wochenende besorgen solle: Lamm, Huhn, Fisch oder etwas anderes?
Tinka konnte einem aus dem Schlaf gerissen den Zitronensäurezyklus im Detail erläutern, aber die Essensplanung für zwei Tage überforderte sie. Allerdings hegte Leander den Verdacht, dass sie mit ihren mangelnden hausfraulichen Qualitäten kokettierte und diese sogar noch kultivierte. Am Wochenende delegierte sie das Kochen grundsätzlich an Leander. In seiner vorehelichen Balzphase hatte er seine Kochkünste eingesetzt, um Tinka rumzukriegen. Das rächte sich jetzt. Innerlich seufzend schielte er unwillkürlich nach dem Foto auf dem Aktenschrank. Tinka kniete im Sand und lächelte verhalten in die Kamera. Das Haar war hochgesteckt und betonte ihren grazilen Hals. Ihr Körper in einem schwarzen Badeanzug, schlank, fast schon mager, wurde halb verdeckt von Lucie in Badeshorts. Sie blickte neugierig ins Objektiv. Im Vordergrund war eine Sandburg zu sehen. Familienurlaub auf Korfu, drei Monate her. Leander sandte einen gequälten Blick in das zaghafte Blau von Tinkas Augen. »Wenn du an der Markthalle vorbeikommst, nimm Fisch! Und für Sonntag Lamm und etwas Gemüse. Ich muss aufhören, ich hab«
»Was für Gemüse?«
Seine Besucherin lächelte ihm und dem Foto verständnisvoll zu, nahm ihre Tasche, hängte sich die Jacke über den Arm und strebte zur Tür. Leander machte ihr ein Zeichen, zu warten.
»Tinka, bitte, ich kann nicht länger sprechen, ich habe in zwei Minuten eine Livesendung«, schwindelte er. »Kauf irgendwas. Ciao, ihr zwei Süßen.« Er hörte sie einen Gruß murmeln und im
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