Das gläserne Paradies
warum sagst du Tante Ruth nicht einfach, daà ihr lieber noch ein paar geruhsame Tage verbringen würdet?« Gedankenverloren schaute Anna auf den Papierblock, der neben dem Telefonapparat lag. Wie von Zauberhand waren während des Gesprächs Dutzende von Herzchen darauf entstanden. Sie lächelte. Wie sie es derzeit häufig tat. Müdigkeit? War für sie ein Fremdwort geworden! Schlechte Laune? Kannte sie nicht mehr. Anna malte in eines der gröÃeren Herzen die Buchstaben A und R.
»Ha, da kennst du meine Schwester schlecht!« prustete Johanna am anderen Ende der Leitung. »Ruth wäre tödlich beleidigt, wenn ich so etwas auch nur andeuten würde! New York ist ihre Stadt â wehe, wenn wir sie nicht entsprechend würdigen!« Johannas Seufzen wurde durch ein weiteres Knacken in der Leitung noch verstärkt. »Jedenfalls reicht es mir langsam wirklich und ⦠Oh, da kommen Ruth und Steven! Hallo, ihr beiden, ich habe die Heimat am anderen Ende der Leitung.« Schlagartig verlor Johannas Stimme den leicht jammernden Unterton. »Ruth läÃt schöne GrüÃe ausrichten!« flötete sie.
»Grüà du sie auch«, sagte Anna, der das Gespräch allmählich zu lang wurde.
Als das Telefon geklingelt hatte, war sie gerade dabeigewesen, einen neuen Auftrag fertigzustellen. Zwanzig Dutzend Nikoläuse, die anstelle von roten Mützen blaue haben sollten â nun ja, wemâs gefiel ⦠Bei dem Käufer handelte es sich um einen der zahlreichen Kunden, die im Sommer nur zaghaft geordert hatten, die sich plötzlich aber doch einbesseres Weihnachtsgeschäft erhofften und nachbestellten. Natürlich muÃte nun alles ganz schnell gehen.
Anna seufzte. Die Angst, es nicht zu schaffen und vor den Eltern als dummes junges Ding dazustehen, war ständig präsent, auch wenn sie alles daransetzte, es sich nicht anmerken zu lassen. In Johannesâ Augen war sie stets die Ruhe selbst, und auch die anderen Arbeiter der Werkstatt sahen in ihr diejenige, bei der die Fäden zusammenliefen, so wie das sonst bei Johanna der Fall war. Einerseits war Anna stolz darauf, daà ihr soviel zugetraut wurde, andererseits war ihr die Verantwortung an manchen Tagen fast zu groÃ.
»Ach, Mutter, ich freue mich so auf euch!« sagte sie jetzt und spürte im selben Moment überdeutlich, wie sehr sie ihre Eltern vermiÃte. Sie hatte ihrer Mutter ja so viel zu erzählen! Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, gleich hier und jetzt ins Telefon zu schreien, daà Richard sie zu seiner Ausstellungseröffnung am Sonntag in drei Wochen eingeladen hatte. Ob sie so lieb wäre, den Gästen die Mäntel abzunehmen und später Sekt zu servieren, hatte er sie gefragt. Ja! Ja! Ja! hatte Anna rufen wollen. Alles, solange er sie in seiner Nähe haben wollte. An seinem groÃen Tag.
Seltsam war es schon, daà er Wanda nicht einmal gefragt hatte, ob sie ihm helfen würde. Nein, sie käme nicht mit nach Meiningen, hatte er auf Annas Frage geantwortet. Wanda stünde derzeit nicht der Sinn danach.
Richard ⦠Zu den vielen Herzchen auf dem Notizblock kamen weitere hinzu. Der Buchstabe R wurde mit einer blumigen Girlande verziert.
Wenn Mutter erfuhr, daà es mit ihr und Richard nun doch noch etwas werden konnte â¦
»Wir freuen uns auch auf zu Hause!« ertönte esinbrünstig am anderen Ende der Leitung. »In neun Tagen sehen wir uns wieder! Also, mein Kind, richte schöne GrüÃe aus und ⦠Halt, Steven will noch etwas wissen! Welche Baumwollplantage? Was hat Wanda? Bremer Reederei? Ach so, ich verstehe!«
Anna verdrehte die Augen. Mit wem redete Mutter nun eigentlich?
»Bist du noch dran, Anna? Steven will wissen, was aus dem Aktiengeschäft der Glasbläser geworden ist. Gehört die Glashütte schon ihnen?«
Auch das noch ⦠Anna bià sich auf die Lippen.
»Das Aktiengeschäft, tja â¦Â« Eigentlich hatte sie gehofft, nicht am Telefon davon erzählen zu müssen. Wie faÃte man eine Katastrophe in wenigen Sätzen zusmmen? Bemüht um eine neutrale Stimme, versuchte sie die Geschehnisse der letzten Tage zu skizzieren.
»Wir haben hier alle Hände voll zu tun, daher war ich vorgestern auf dem Bahnhof nicht dabei. Ich kann dir also alles nur aus zweiter Hand erzählen«, sagte Anna. Daà sie es nicht ertragen hätte, Wanda gefeiert zu
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