Das gläserne Paradies
Lauschaer Wurzeln mich fest mit dem Ort verbinden. Vater â du solltest stolz auf mich sein, verstehst du? Auf deine amerikanische Tochter. Und Mutter sollte stolz auf mich sein. Auf ihre Lauschaer Tochter. Richard sollte stolz auf mich sein! Auf seine zukünftige Frau. Statt dessen läÃt er sich nicht einmal mehr blicken â¦Â« Wandas Leib wurde nun von soharten Schluchzern geschüttelt, daà sich der Schaukelstuhl bewegte.
»Ich bin wie dieses blöde Glas da â wertlos!«
Thomas streckte seine Hand aus, wollte ihr über den Kopf streichen oder über die Wange, kam sich dabei aber dumm vor. Also nahm er ihr das Glas aus der Hand.
»Bei einem Holzbecher wäre so ein kleiner Makel gar nicht aufgefallen! Oder bei einem Becher aus Blech«, murmelte er, während Wanda leise vor sich hin weinte. »Glas dagegen ist ein ganz besonderer Werkstoff. Empfindlich, leicht zu durchschauen, sehr rein. Glas ist auf seine Art â verdammt ehrlich.« Was rede ich für einen Blödsinn, schoà es ihm durch den Kopf. Als ob auch nur ein Wort davon hilfreich wäre! Jäh schlug er das Glas auf die Kante des Fenstersimses.
Wandas Weinen brach abrupt ab. »Vater â¦Â«
»Jetzt ist es wirklich kaputt!« sagte Thomas und wunderte sich über die Genugtuung in seiner Stimme.
»Ich werde es kleben. Für dich!« fuhr er fort und schaute Wanda dabei grimmig an. »Es wird danach nicht mehr aussehen wie zuvor. Es wird Risse haben, sichtbare Risse! Aber dafür wird es eine Geschichte erzählen, wird eine ganz besondere Erinnerung in sich tragen â¦Â«
Schweigend begann er, die Scherben aufzulesen. Er wollte gerade die letzte davon aufheben, als er aus dem Augenwinkel heraus Wandas Hand sah. Fast zaghaft griff sie nach dem Glasstück, legte es zu den anderen in seine Handfläche.
»Seit Marie mir das erste Mal von Lauscha erzählt hat, war es für mich nur noch âºdas gläserne Paradiesâ¹.« Ihr Lachen klang traurig. »Und jetzt ist auch der Traum vom gläsernen Paradies zerbrochen. Zurückgeblieben ist nur ein einziger Scherbenhaufen«, murmelte sie vor sich hin.
Einen Moment lang schwiegen beide, die Augen auf die Glasscherben gerichtet.
»Ach, Kind«, sagte Thomas nach einem langen Seufzer. »Im Laufe der Zeit verpaÃt das Leben uns allen ein paar Blessuren. Aber nur die wenigsten Menschen zerbrechen daran. Glaub mir, ich weiÃ, wovon ich spreche.«
44. K APITEL
Vielleicht wuÃte Thomas, wovon er sprach â Wanda wuÃte es allerdings nicht. Ihretwegen lag das gläserne Paradies in Scherben, da war es nur rechtens, daà sie nichts mehr darin verloren hatte. Trotz Thomasâ freundlicher, hartnäckiger Aufforderungen, trotz Evas Gekeife vergrub sie sich weiter in ihrem Zimmer. Tagelang.
Lediglich wenn es an der Haustür klopfte, erwachte sie kurz aus ihrer Lethargie. Stand auf, huschte auf den Flur, lauschte, um wen es sich bei dem Besucher handelte. »Gleich kommt Richard die Treppe herauf!« schrie dann alles in ihr. Sie strich sich ihre strähnigen, ungewaschenen Haare aus dem Gesicht, hauchte ihren sauergewordenen Atem in die Handhöhle und ekelte sich vor sich selbst. Egal! Sie spürte schon seine warmen, von der Arbeit hartgewordenen Hände auf sich. Spürte seinen kratzigen Pullover an ihrer Wange, wenn sie ihren Kopf an seine Brust preÃte. Gleich, gleich würde sich der Nebel, der sie von der Welt trennte, lichten.
Doch Richard kam nicht. Und irgendwann hörte Wanda nicht einmal mehr das Türklopfen.
So bekam sie auch nicht mit, daà die Witwe Grün einenTeller Kekse für sie abgab. Oder daà Johannes sie zu einem Spaziergang abholen wollte.
Wanda wollte mit niemandem reden. Reden â das ging nicht. Worüber denn? So zu tun, als wäre nichts geschehen, ging schlieÃlich nicht.
Sie wollte auch Maria Schweizer nicht sehen, die mit tränenverhangenem Blick an die Tür klopfte â wie sollte sie mit dem Wissen um ihre eigene Schuld und Unfähigkeit der Frau je wieder in die Augen schauen können? Wie sollte sie sich bei der Frau entschuldigen? Für das, was sie den Lauschaern angetan hatte, gab es keine Entschuldigung.
»Karl hat gekündigt«, schluchzte Maria statt dessen also bei Eva. »Er sagt, mit Strobel als Chef hätte er es in der Hütte keinen Tag länger ausgehalten.
Weitere Kostenlose Bücher