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Das gläserne Paradies

Das gläserne Paradies

Titel: Das gläserne Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Durst-Benning
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angetanzt.
    Dreimal hatten sie dieselbe Antwort bekommen: »Wartet noch! Der Kurs wird noch höher steigen!«
    Am letzten Freitag, als Wanda allein in Sonneberg war, hatte er schließlich gesagt: »Jetzt ist der richtige Zeitpunkt gekommen!«
    Wanda, die gar nicht gemerkt hatte, daß sie die Augen geschlossen hatte, öffnete sie wieder. Blinzelte in Richtung Altar. Durch die farbigen Glasscheiben dahinter fielen rote und blaue Sonnenstrahlen in die Kirche.
    Ins gläserne Paradies.

38. K APITEL
    Mit steifem Rücken und versteinerter Miene ging Wanda in Richtung Bahnhof. Wie immer um diese Tageszeit herrschte dort reger Betrieb: Glasbläser aus dem nahen Lauscha, die ihre Waren bei einem Sonneberger Verleger ablieferten, Hausfrauen aus Steinach und anderen umliegenden Gemeinden, die es nach ihren Einkäufen in der großen Stadt nun eilig hatten, wieder nach Hause zu kommen, Geschäftsleute, die mit wichtiger Miene wichtige Aktenkoffer mit sich trugen. Viele von den Wartenden streckten ihre Gesichter der Sonne entgegen, um die letzten wärmenden Strahlen zu genießen.
    Doch Wanda spürte weder die Sonne, die für Mitte September noch ungewöhnlich warm war, noch bemerkte sie den verführerischen Geruch, der aus einer nahen Wurstbraterei herüberwehte.
    Als sie endlich auf dem Bahnsteig stand, erschlaffte ihre angespannte Miene.
    Aus. Vorbei. Sie brauchte keine Contenance mehr zu zeigen. Niemanden würde es mehr kümmern, ob sie heulte oder tobte oder ob ihr der Rotz aus der Nase lief wie bei einem kleinen Kind.
    Aber sie heulte nicht. Und sie tobte nicht.
    Sie spürte nicht einmal mehr ihre Traurigkeit, nicht die Angst und nicht die Sorge.
    Denn sie hatte alles verloren.
    Sie hatte die Menschen, die ihr am nächsten standen, enttäuscht, war eine Versagerin auf der ganzen Linie.
    Hatte sie das nicht schon immer gewußt?
    Du bist eine Schmarotzerin!
    Lebst auf unsere Kosten!
    Lachst auf unsere Kosten!
    Ihr Blick heftete sich auf die Schienen. Oh, wie vertraut war ihr der Weg, den die Bahn von Sonneberg nach Lauscha nahm! In- und auswendig kannte sie diese Strecke. Kannte jede der Kurven, in denen es einen auf den harten Bänken zur Seite drückte, kannte das Stück, wo die Lokomotive zu schnaufen anfing und immer langsamer wurde. Sie wußte, wann die schattigen Stellen entlang der steilen Berghänge kamen, wo es in den Abteilen urplötzlich düster wurde.
    Wie romantisch hatte sie diese Bahnstrecke stets empfunden! Genauso romantisch wie ihr Lauscha am Ende der Strecke. Eingebettet in das hochgelegene Tal, mitten im gläsernen Paradies …
    Wanda stöhnte auf. Bei dem Gedanken daran, wie viele Menschen dort am Bahnhof auf sie warteten, verkrampfte sich ihr Magen. Bestimmt stand schon jetzt ein Empfangskomitee bereit, womöglich mit Wein und Gesang – warumsonst hatten die anderen darauf bestanden, ausgerechnet heute in Lauscha zu bleiben, statt sie an diesem großen Tag nach Sonneberg zu begleiten? Und diesen treuen, lieben Seelen, die ihr vertraut hatten und die nun mit ihr feiern wollten, sollte sie entgegentreten und ins Gesicht sagen, daß alles verloren war?
    Ihr Blick fiel auf den nutzlosen Stapel Papier, den sie in der Bank nachlässig in ihre Tasche gestopft hatte.
    Was weißt du schon von der Hände Arbeit?
    Nichts, Anna. Nichts.
    Das Ende eines langen Sommers.
    Das Ende.
    Nie mehr würde sie die Bahnstrecke entlangfahren, nie mehr würde sie in Lauscha ankommen. Für sie gab es keine Einkäufe mehr zu tätigen oder wichtige Unterlagen in wichtig aussehenden Aktenkoffern zu transportieren.
    Sie war am Ende ihrer Reise angelangt.
    Das hatte auch ihr Besuch bei Friedhelm Strobel gezeigt. In ihrer Verzweiflung hatte sie nichts Besseres zu tun gewußt, als ihn aufzusuchen. Den Verleger, von dem der Aktientip gekommen war, dessen Namen David Wagner nach langem Hin und Her endlich genannt hatte.
    Ein neuerliches Schauern durchfuhr Wanda. Nicht daran denken, nicht daran denken, schrie alles in ihr.
    â€¦ wie die Hände nach ihr gegriffen hatten, der saure Atem, der ihr Gesicht traf, die Augen, so – überheblich.
    Zuerst hatte sie gar nicht verstanden, was sich in dem feinen Ladengeschäft anbahnte – zu aberwitzig war allein der Gedanke gewesen. Und als sie verstand, war es fast zu spät gewesen. Um ein Haar – wenn sie nicht schnell genug zur Tür hinausgelaufen

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