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Das gläserne Paradies

Das gläserne Paradies

Titel: Das gläserne Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Durst-Benning
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wäre – hätte er sie gepackt und … Nein, nicht daran denken!
    In ihrem Rücken hörte sie die Geräusche des nahendenZuges. Schon lag ein Hauch von verbrannter Kohle in der Luft. Je näher der Zug kam, desto rußgeschwängerter würde die Luft werden, und die Menschen auf dem Bahnsteig, die gerade noch so genießerisch in die Sonne schauten, würden anfangen zu prusten, und ihre Nasen würden sich kräuseln.
    Erst im letzten Winter hatte sich eine junge Frau vor einen herannahenden Zug gestürzt. Ihr schrecklicher Tod hatte in allen Zeitungen Schlagzeilen gemacht. Wanda hatte sich damals nicht vorstellen können, welche Verzweiflung einen Menschen zu solch einer Tat treiben konnte. Dem Leben auf diese Art ein Ende zu setzen wäre feige, hatte sie behauptet. Sie erinnerte sich noch genau an das Gespräch mit Eva, das über diesem Thema zum Streit ausgewachsen war. Eva hatte die Selbstmörderin und ihre Verzweiflung verstanden. Als feige hätte sie einen solchen Menschen nie bezeichnet. Von den Schienen zermalmt zu werden war schließlich kein gnädiger Tod, die Gliedmaßen wurden durch tonnenschwere Lasten abgetrennt, Gedärme entblößt, der ganze Körper zermalmt … Wanda hatte davon nichts hören wollen.
    Du und deine selbstherrliche Arroganz! tönte es schrill in ihren Ohren.
    Immer hast du geglaubt, alles allein meistern zu können. Hast dir eingebildet, besser zu sein als andere. Mehr zu können, mehr zu wissen und zu wagen.
    Seit du hier angekommen bist, hast du nur Unheil über uns gebracht!
    Ja, Anna.
    Aber das ist nun vorbei.
    Das Schrillen in ihren Ohren wurde lauter und lauter. Wanda drehte sich um, sah den dampfenden, schwarzen Koloß näher und näher kommen.
    Aus. Vorbei. Alles verloren. Sie machte einen Schritt nach vorn. Und wurde im selben Moment hart von hinten an der Schulter gepackt.

39. K APITEL
    Die Hände des Mannes kommen näher, immer näher. Feiste, feuchte Hände, die nach ihr greifen, nur noch eine Handbreit von ihr entfernt. Sein Atem trifft sie, er riecht nach Verfaultem. Sie preßt die Lippen zusammen, ihre Nasenflügel beben bei dem Versuch, die Luft anzuhalten. Sie will schreien, doch dazu hätte sie den Mund aufmachen und atmen müssen. Nur ein Stöhnen kriecht aus ihrer Kehle, zu leise, um hilfreich zu sein. Wer sollte sie hören? Die Mauern des Hauses sind dick, solide, die Tür aus schwerem Holz. Die Tür ist zu, der Mann hat sie verriegelt.
    Seine Stimme. »Wir wollen doch nicht gestört werden …«
    Wieder ein Stöhnen, lauter, angstvoller. Niemand da, der sie hört.
    Weg von hier, weg, weg …
    Mit aller Macht versucht sie sich loszureißen, doch ihre Füße kleben am Boden, der genauso feucht ist wie die Hände, genauso faulig wie der Atem. Nicht atmen, nicht atmen. Panisch starrt sie auf die hölzernen Dielen, deren aufwendiges Muster vor ihren Augen verschwimmt. Alles in dem Raum ist dunkel, kein Sonnenstrahl, keine Lampe, nichts. Dunkel wie eine Gruft. Und mittendrin der Mann. Nicht zu dem Mann schauen, vielleicht wird er sich in Luft auflösen, Augen zu …
    Ein Lachen, geifernd, geckernd, das Wanda an einen Raubvogel im Wald denken läßt.
    Bevor Wanda weiterdenken kann, krallen sich Finger in ihren Arm, zerren an ihrer Jacke, der Stoff schneidet sich schmerzhaft in ihr Fleisch und –
    Wanda schrie auf. Schlug wie wild um sich, wand sich und schrie.
    Â»Kind! Um Himmels willen, Wanda!«
    Nein, nicht die Augen öffnen, der Mann!
    Hände rüttelten an ihrem Arm, aber diese Hände waren warm und trocken, nicht kalt und feucht.
    Â»Wanda!« Die Stimme – sie war anders.
    Etwas kitzelte in ihrer Nase. Der Geruch war auch anders. Hier roch es nach Papier, nach Staub, nach Leder. Es roch – nach Büchern.
    Sie war nicht mehr in dem schrecklichen Laden.
    Â»Wanda! So wachen Sie doch auf!«
    Wanda atmete vorsichtig durch. Langsam, unruhig flatternd wie zarte Insekten, hoben sich ihre Lider. Und sie schaute in freundliche Augen.
    Â»Herr Sawatzky …« Ihre Stimme war rauh und fremd.
    Â»Alles ist gut, Sie sind bei mir, in Sicherheit. Alles ist gut …« Er griff hinter ihren Rücken, versuchte sie aufzurichten. Widerwillig rappelte sich Wanda hoch.
    Alois Sawatzky schaute sie betrübt an. »Kind, was haben Sie mir für einen Schrecken eingejagt! Was

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