Das gläserne Tor
voraus. »Den können wir nicht nehmen. Wir müssen über die Felsen.«
Die Ausläufer des Hyregor ragten ungemütlich über ihnen auf, kahl, schrundig, die fernen Gipfel von der Sonne beleuchtet. Grazia ahnte, dass der bisherige Weg im Vergleich zu dem, was jetzt auf sie zukam, ein Spaziergang gewesen war.
Sie hasteten über das freie Feld und tauchten in die Schatten aufragender Felsnadeln ein. Auch hier gab es so etwas wie einen Pfad, aber der war wesentlich schwieriger zu nehmen. Anschar ging voraus und hielt ihre Hand. Angesichts der Anstrengung schrumpfte die Frage, ob sie sich in diesem Felsengewirr nicht verirren mussten, zur Bedeutungslosigkeit. Grazia verlor jegliches Zeitgefühl, dachte nur an den nächsten Schritt, erbettelte sich Pausen und ergötzte sich, wenn die Mühen weniger schlimm waren, an der Landschaft. Die aufgeworfenen Felsen erklärten gut, wie die Legende vom Schwerthieb des Inar entstanden war. Braun bepelzte Tiere, Mardern ähnlich, aber gedrungener und mit spitzen Ohren, sprangen dicht vor ihren Füßen über die Spalten und Risse. Ab und an erhaschte sie einen Blick auf ferne Bergziegen, deren einzelne Hörner noch länger als die der Wüstenziegen waren, das Fell hingegen glatt und von hellem Grau. Sie reckten die Köpfe und sprangen behände davon. Koniferen wuchsen in den Spalten, nicht höher als Büsche, und je weiter Grazia und Anschar in den Hyregor vorstießen, desto weniger war von der Trockenheit des ebenen Landes zu spüren. Sie stießen sogar auf Quellen, die sich aus der Felswand ergossen, in Felsspalten verloren und sich in kleinen Tümpeln sammelten. Die Hitze hielt jedoch unvermindert an. Jeden Schweißtropfen zwang die Sonne unbarmherzig aus den Poren. Um in den Genuss kühlerer Luft zu kommen, würden sie wohl bis auf die Gipfel vorstoßen müssen.
Immer wieder schlug sich Anschar für kurze Zeit in die Büsche, um zu kontrollieren, dass sie sich parallel des Pfades befanden, den die Reiter genommen hatten. Jedes Mal, wenn er zurückkehrte, erklärte er, niemanden gesehen zu haben. Weder die Reiter noch sonst irgendeinen Menschen. So war es auch am Nachmittag, als Grazia überzeugt war, keinen Schritt mehr tun zu können. Während sie auf ihn wartete –
und wie so oft um ihn bangte -, zog sie die Bastschuhe aus und rieb sich die schmerzenden Füße.
Er sprang an ihrer Seite herab. »Wir sind da.«
»Wirklich?« Nur langsam begriff sie. »Die Herscheden! Sind sie dort?«
»Nein. Ich habe niemanden gesehen. Da ist nur eine Hütte dicht an der Felswand. Weit und breit keine Möglichkeit für zwanzig Männer, sich mitsamt ihren Pferden zu verstecken. Es könnte natürlich sein, dass es gar nicht die Einsiedelei ist, die wir suchen. Aber das werden wir gleich wissen. Komm.«
Nur noch ein paar Meter, sagte sie sich, dann war es geschafft. Zumindest fürs Erste, denn wo genau das Tor war, wussten sie ja nicht. Sie mussten noch ein wenig klettern und sich dann durch einen schmalen Felsspalt winden. An seinem Ende überblickten sie einen Talkessel, der auf der anderen Seite von dichtem Wald begrenzt wurde, welcher sich weit in der Ferne verlor. Der Zedernwald, glaubte Grazia zu erkennen. Deutlich war der Pfad zu sehen, der aus dem Tal heraufführte, eine mit Gras bewachsene Anhöhe überwand und sich zwischen Kiefern verlor, die im Halbkreis die Hütte umstanden. Dahinter ragte die Felswand empor, weiß und trutzig wie eine zinnenbewehrte Mauer. An einem erdigen und weniger steilen Hang standen Weinreben, voll mit Trauben.
Anschar half ihr beim Abstieg. Das weiche Gras des sanft ansteigenden Abhangs unter den Füßen zu spüren, war ein Genuss.
»Sieh doch!« Grazia deutete auf einen Mann hinter den Kiefern. Trotz seiner weißen, bis zum Boden fallenden Gewandung war seine drahtige Gestalt zu erahnen, die das karge Leben verriet, welches er führte. Er war offenbar damit beschäftigt, ein Pferd zu versorgen, das auf der von den Bäumen gebildeten Lichtung graste. Unvermittelt sah er auf, entdeckte sie und hob die Hand zum Gruß.
»Das ist er«, sagte Anschar. »Vor Jahren habe ich ihn in der Stadt gesehen.«
»Er macht einen freundlichen Eindruck.« Erleichtert atmete sie auf. Das erste Ziel war erreicht.
Der Mann hatte den Eimer, mit dem er wohl das Pferd tränken wollte, zu Boden gestellt, und sah nun neugierig zu, wie sie sich näherten. Als sie zwischen den knorrigen Kiefern hindurch auf den Platz vor der Hütte traten, glaubte Grazia ihren Augen nicht zu
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