Das gläserne Tor
auszustrecken und ihn zurückzuhalten.
Gras knisterte unter den ungeduldigen Hufen des Pferdes. Es schnaubte. Grazia sah nichts, glaubte aber zu hören, dass es sich näherte, Schritt für Schritt. Sie krallte die Finger in Anschars Hemd und betete, dass sie verschont würden. Von der Straße her waren ebenfalls Huftritte zu hören und die Wortfetzen mehrerer Männer. Dann nahm sie nur noch ihren eigenen keuchenden Atem wahr, da sie die Hände auf die Ohren presste. Als der Druck von Anschars Arm schwand, hob sie den Kopf.
»Warte hier«, zischte er und rannte aus der Deckung. Sie wagte es, über den Rand des Felsens zu spähen. Der Reiter war fort, die Wildnis wirkte unberührt. Irgendwo voraus bewegten sich Blätter, ohne Zutun des Windes. Die Männer mussten noch in der Nähe sein. Was, wenn Anschar ihnen in die Hände fiel? Sie konnte kaum atmen, so dick saß der Kloß der Angst in ihrer Kehle. Aber da kehrte er zurück, machte einen Satz hinter den Felsen und kauerte wieder an ihrer Seite.
»Zwanzig habe ich gezählt«, berichtete er. »Herschedische Palastkrieger. Keine Frage, dass sie uns suchen. Sie sind nach Osten unterwegs.«
»Wissen sie, wo der heilige Mann ist?«
»Das ist anzunehmen.«
»Wir werden ihnen in die Arme laufen!«
»Nein.« Er zog sie wieder an sich. »Weiter voraus wird es zu unwegsam für Reiter. Sie werden auf der Straße bleiben. Wie wir uns dann unbemerkt der Einsiedelei nähern, weiß ich nicht, aber mach dir nicht mehr Sorgen als nötig. Jedenfalls freu dich, dass du dich noch ein Weilchen ausruhen kannst. Es ist wohl besser, ein wenig länger zu warten.«
Grazia unterdrückte das Angstbeben ihres Körpers und bettete den Kopf an seiner Brust. Die Klinge dicht vor ihren Augen gemahnte sie an das, was ihnen noch bevorstehen mochte. »Zwanzig Krieger! Vielleicht sind sie ja gar nicht unseretwegen unterwegs?«
»O doch.« Er lachte, und es klang böse. »Wären sie nicht mit Bogen bewaffnet, könnte ich mich fast gekränkt fühlen, dass es so wenige sind.«
Für die Nacht fanden sie eine mannshohe Felsspalte, an deren Grund der Boden einigermaßen eben war, fast wie eine kleine Höhle. Anschar hatte ein hasenähnliches Tier erlegt, das ihm vors Schwert gelaufen war. Die Schnelligkeit, mit der er es zubereitete, verriet seine frühere Tätigkeit in der Palastküche. Lediglich das Feuermachen nahm einige Zeit in Anspruch, da er nicht über Pyrit und Feuerstein und schon gar nicht über Streichhölzer verfügte. Kaum hingen die Fleischstücke auf Stöcke gespießt über dem Feuer, knurrte Grazia der Magen.
»Und du bist sicher, dass sie uns hier nicht finden?«, fragte sie.
»Ziemlich sicher. Wir sind hier geschützt, und sie sind weit voraus.« Er riss von irgendwoher ein Büschel Gras aus und säuberte die Dolchklinge. Dann setzte er sie an den Hals. Grazia hielt den Atem an. Aber er säbelte sich nur den Ziegenbart ab. Unzählige Male strich er mit den Fingern darüber, bis er endlich jedes Härchen entfernt hatte.
»Eigentlich schade«, meinte sie.
»Findest du?« Er klang empört.
»Es sah ziemlich verwegen aus. Und dann mit Goldperlen darin? Du sahst aus wie ein Pirat .«
»Deine harten Wörter quälen meine Ohren. Korsett. Pirat . Was immer das ist.«
Es zu umschreiben, war nicht leicht. Maritime Begriffe
waren hier schließlich in Vergessenheit geraten. »Ein Mann, der auf einem Schiff reist und andere Schiffe überfällt.«
Anschar hob belustigt eine Braue und wischte die Härchen von der Schneide. »Schwer vorstellbar für einen Argaden. Hier kennen wir ja nur den Großen See inmitten weitläufiger Getreidefelder, aber mehr als ein paar Fischerboote findet man darauf nicht. Sollte es mich je in deine Welt verschlagen, würde ich gern das Meer sehen. Die riesigen Schiffe. Delfine . Delfine? Richtig?«
»Ja. Aber nicht da, wo ich wohne; da ist es zu kalt.«
»Ach ja, die sind dort, wo die Mykener leben. Wie war das noch? Sie sind wie einstmals der Held Meya mit tausend Schiffen über das Meer gefahren, um eine Stadt zu erobern? Wegen einer Frau?«
»Ja, genau.«
Er warf ihr einen Seitenblick zu, der ihr ein Prickeln über die Haut jagte. »Sie ist gewiss sehr schön. Glaubst du, sie schaffen es?«
»O Anschar, das war doch …« Sie musste lachen. »Ja, ich bin sicher.«
Er zog einen der Stöcke aus der Erde, begutachtete das Fleisch und reichte es ihr. So ganz ohne Gewürze war es kein besonderes Mahl, aber da Hunger der beste Koch ist, hatte sie es
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