Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
Vom Netzwerk:
beiseite.
    »Wer … wer ist das?«, stotterte Friedrich.
    »Rede gefälligst Argadisch!«, fauchte Anschar ihn von der Seite an.
    »Friedrich, kannst du Argadisch?«
    »Ob ich was kann? Grazia, was soll das alles? Wo kommst du her? Wer ist das? Ich begreife gar nichts.«
    Friedrich wankte zum Tisch, rutschte mit Mühe auf eine Bank und stützte den Kopf in die Hände. Dann fiel sein Blick auf die Becher, und sofort griff er sich einen und schüttete den Wein in sich hinein. Grazia lief zu ihm und rüttelte ihn an der Schulter.
    »Friedrich, verstehst du denn nicht? Ich bin hier!«
    Er wischte sich über den Schnauzbart und blickte zu ihr hoch. »Ich sehe dich, aber ich träume doch nur. Wie du aussiehst …«, seine Hand betastete ihren Mantel. »Verrückter Traum. Wirklich verrückt.«
    So war es ihr anfangs auch ergangen. Sie musste Geduld haben, also setzte sie sich an seine Seite und ergriff seine
Hand. »Was hast du zuletzt gemacht? Ich meine, daheim? Wie bist du in das Licht geraten? Wo?«
    »Wo? Ja, wo … Auf der Insel. Ja, da war es. Du bist ins Wasser gefallen. Bist ertrunken.« Er schüttelte unentwegt den Kopf. »Ich bin dir hinterhergesprungen. Und dann … ja … weiß nicht. Alles war hell und dann schwarz, und plötzlich waren da Felsen. Mir ist schlecht.«
    Nun war sie es, die fassungslos den Kopf schüttelte. Sie knetete seine Hand, als könne ihm das auf die Sprünge helfen. »Friedrich, das war vor einem Jahr! Genau genommen vor elf Monaten. Du bist so lange hier und hast immer noch keine Ahnung, was passiert ist?«
    »Mir ist schlecht«, wiederholte er nur. Seine Wangen waren kalkweiß. Scharfe Falten verloren sich in seinem traurig herabhängenden Bart.
    »Mein Gott, Friedrich. Du bist hier. Hier!«, murmelte sie immer noch ganz betäubt. Sie erinnerte sich sehr gut an jenen Moment, als sie gesunken war und ihn über sich gesehen hatte, immer kleiner werdend. Er hatte die Hände nach ihr ausgestreckt. Dass er ihr gefolgt sein könnte, daran hatte sie nie auch nur eine Sekunde gedacht. Tatsächlich trug er dieselbe hellbraune Hose und dasselbe weiße Hemd wie an jenem Tag. An den Füßen hatte er nur seine schwarzen Socken, wahrscheinlich hatte er seine Schuhe vor dem Sprung ins Wasser abgestreift. Zaghaft strich sie ihm über das schweißfeuchte Haar. Er schien es gar nicht zu bemerken.
    »Er sollte sich wieder hinlegen.« Bruder Benedikt trat zu ihm und griff ihm unter die Achseln. »Der hier braucht noch eine Menge Schlaf.«
    Friedrich machte keine Anstalten, aufzustehen. Kurzerhand beugte sich Anschar über ihn, packte sein Hemd vor der Brust und zog ihn hoch. Nach Luft ringend, zappelte Friedrich
in seinem Griff. Er versuchte die Hand zu lösen, aber er erreichte nichts. »Grazia«, keuchte er. »Kann … kannst du deinen Hektor zurückpfeifen?«
    Bevor sie dazwischengehen konnte, hatte Anschar ihn über die Schulter geworfen und schleppte ihn in die Hütte. Grazia rannte hinterher, sah aber nur noch, wie Friedrich reichlich unsanft auf einer Pritsche landete. Aufjaulend fasste er sich an den Kopf.
    Bruder Benedikt schob sich an Grazia vorbei, beugte sich über ihn und flößte ihm noch etwas Wein ein. Vielleicht war es auch etwas anderes, denn es brachte Friedrich dazu, sich zu entspannen. Er murmelte unentwegt weiter, dass ihm übel sei, aber dann fielen ihm die Augen zu.
    »Gott sei’s gedankt, er schläft«, murmelte der Mönch, schlug ein Kreuz über ihm und sagte etwas auf Lateinisch, das sich wie ein Krankengebet anhörte.
    »Benedik!«, knurrte Anschar. Der Name verlangte seiner argadischen Zunge alles ab. »Hast du nicht gesagt, du erklärst uns das hier? Du lässt dir damit reichlich Zeit.«
    »Oh, überhaupt nicht, mein Freund. Du bist zu ungeduldig.« Der Mönch bedeutete ihnen mit ausgebreiteten Armen, wieder hinauszugehen. »Omnia tempus habent, sagt Salomo. Aber das ist dir ja alles kein Begriff. Und jetzt lasst den armen Mann schlafen. Ich habe ihn vor drei Tagen gefunden. Er ist ein bisschen unglücklich aus dem Tor gekullert und hat sich den Kopf angeschlagen.«

20

    D er Dominikanermönch teilte ganz offensichtlich die argadische Vorliebe für gebratene Singvögel, denn außen an seiner Hütte hing ein Vogelbauer, in dem sich mindestens zwanzig gefangene Gelbschwänze tummelten. Er holte einen nach dem anderen der ängstlich piepsenden Federknäuel heraus und schlug ihre Köpfe gegen die Wand. Grazia schüttelte sich bei diesem Anblick. In einem Korb trug er fast ein

Weitere Kostenlose Bücher