Das gläserne Tor
schnell vertilgt. Dann ergriff die Müdigkeit von ihr Besitz, und sie streckte sich neben dem Feuer aus. Längst war es dunkel geworden. Nach drei Monaten in der Wüste machte es ihr nichts mehr aus, im Freien zu nächtigen, aber das bohrende Gefühl, verfolgt zu werden, hielt sie wach. Sie starrte in den Himmel und suchte die argadischen Sternbilder. Stunde um Stunde verstrich, und als sie endlich einzunicken begann, hörte sie Anschar weinen.
Grazia setzte sich auf. Er hockte vornübergebeugt vor den nur noch schwach brennenden Scheiten. Seine Schultern
zitterten. Sie rückte näher an ihn heran, doch als sie im schwachen Schein des Feuers sein Gesicht sah, zuckte sie zurück. Er hatte sich in Ermangelung blauer Farbe Ruß unter die Augen geschmiert. Tränen schwemmten ihn über seine Wangen.
»Anschar«, murmelte sie. Es war keine Erklärung nötig. Den Tag über hatte er sich wenig anmerken lassen. Jetzt brach die Trauer aus ihm heraus. Er bedeckte die Augen mit einer rußverschmierten Hand und heulte den Schmerz hinaus. Hilflos ergriff sie seine Hand und knetete die schlaffen, kalten Finger, die aus dem Verband herausschauten. Er schien es gar nicht zu bemerken.
»Ich wollte nicht, dass er nach Heria geht, um mich zu besuchen«, klagte er mit tränenerstickter Stimme. »Und was passiert? Egnasch kommt nach Argadye! Und schon war es um Henon geschehen. Das kann doch nicht sein! So ein Unglück kann es einfach nicht geben.«
Angesichts so viel Verzweiflung schossen auch ihr die Tränen ins Gesicht. Sie hatte den alten Mann gemocht, aber Anschars Schmerz schien aus einer anderen Welt zu stammen. Ihr saß ein Klumpen im Hals. »Wenn ich dich nicht gebeten hätte, ihn hinauszuschicken, wäre das nicht passiert.«
»Ich habe den Riegel vorgeschoben. Trotzdem haben wir beide keine Schuld.«
Sie fasste in seinen Nacken. Worte fehlten ihr, aber trösten wollte sie ihn. Er sank auf den Bauch, vergrub das Gesicht in ihrem Schoß und krallte die Finger in ihre Schenkel. Fast hätte sie aufgeschrien, so weh tat er ihr, aber sie hielt es aus. Sie strich ihm über den Kopf, die Schultern und wartete einfach ab, dass er sich beruhigte. Allmählich verebbte das Beben seines Körpers.
»Weißt du«, setzte sie bedächtig an. »Ich glaube, es würde ihn freuen, zu wissen, dass du jetzt frei bist.«
»Frei?«, murmelte er müde in ihren Schoß. »Ich bin nicht
frei, ich bin ein entlaufener Sklave. Und das fühlt sich nicht gut an.«
»Du bist frei.«
»Lass uns nicht darüber reden, Grazia.«
»Ach, Anschar. Ich weiß ja, wie sehr du dich gegen eine Flucht gesperrt hattest. An den Gedanken der Freiheit musst du dich eben noch gewöhnen. Findest du es etwa nicht richtig? Deine Mutter war unrechtmäßig gefangen genommen worden. Was jetzt ist …«
»Ich sagte, ich will nicht darüber reden!« Anschar ruckte hoch. Sein Gesicht war ihrem ganz nah. Ein Schreckensgesicht. Sie berührte seine Wange, um sich davon zu überzeugen, dass es wirklich nur Ruß war. Ihre Lippen hatten sich ohne ihr Zutun geöffnet. Er sah so furchtbar aus, aber die Nähe verwischte den Eindruck. Er packte ihren Kopf und presste den Mund so fest auf den ihren, dass sie glaubte, er werde gewalttätig. Da war seine Zunge – was wollte er? Er stieß damit in sie. Ihr Hinterkopf schlug gegen den Fels. Der Laut, den sie von sich gab, glich dem erschrockenen Fiepen eines Hundes. Nein, dachte sie, hör auf, du bist nicht der Richtige! Aber ihr Mund tat anderes als das, was sie für vernünftig hielt. Ihr Mund gab sich ihm hin.
Anschar war es, der es beendete. Nicht sie. Er schlug mit der Faust gegen den Fels und stöhnte auf. Die Gier stand noch in seinen Augen, aber er rückte von ihr ab und zog die Knie an. Seine Finger bohrten sich in die Kniekehlen. Er trauerte. Aber diesmal, so glaubte sie, nicht um Henon.
Grazia setzte sich auf und streckte den Rücken. Der Schlaf in ihrem Korsett war wohltuend gewesen. Es war inzwischen hell, das Feuer heruntergebrannt, jetzt glühten nur noch die Scheite. Eines der Fleischstücke lag, säuberlich in ein ledriges Blatt gewickelt, inmitten der Glut. Anschar musste es vor
Kurzem hineingelegt haben, eigens für sie, damit sie es warm essen konnte. Schläfrig verscheuchte sie ein paar Mücken und griff nach ihrer Uhr.
»Nicht!«, hörte sie ihn über sich sagen. Sie hielt nach ihm Ausschau. Er stand am Rand der Spalte, hatte einen Fuß auf einen Stein gestellt und auf dem Oberschenkel das Ende eines langen Astes,
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