Das gläserne Tor
trauen. Der Hinterkopf des heiligen Mannes war bis auf einen Kranz ergrauten Haares geschoren. Er mochte jenseits der fünfzig sein, und seine Züge waren vielfach von Falten durchzogen. Sein Gewand war, wenngleich fadenscheinig und geflickt, nicht irgendein Gewand. Es besaß einen Schulterkragen und eine Kapuze. Am Gürtel hing ein Kreuz. Wie vom Donner gerührt blieb Grazia stehen.
Anschar bemerkte ihre Verwirrung, denn er hatte die Hand an sein Schwert gelegt und ließ wachsam den Blick schweifen. Als er Anstalten machte, es zu ziehen, wollte sie ihn an der Schulter berühren, um es zu verhindern, doch er machte einen Schritt seitwärts.
Der Mönch wirkte unbeeindruckt. »Wollt ihr mich gleich überfallen oder nicht doch lieber vorher einen Wein mit mir trinken?«, fragte er in makellosem Argadisch. Er nahm den Eimer wieder auf und stellte ihn vor seinen Braunen, der den Kopf senkte und zu saufen anfing.
»Was ist mit ihm?«, zischte Anschar ihr zu. »Warum starrst du ihn so an?«
»Er ist … er ist … aus meiner Welt!«
»Bist du sicher? Er lebt hier seit etlichen Jahren. Und er ist ein Priester des Inar.«
»Bin ich nicht«, warf der Mönch ein. »War ich nicht und werde ich nie sein. Aber das geht nicht in die Köpfe der Leute
hier, und wenn ich noch einmal so viele Jahre darauf verwende, es ihnen einzutrichtern. Und nun wäre es mir sehr recht, wenn du die Hand von deiner Waffe nimmst.«
»Anschar, bitte.«
Äußerst langsam ließ Anschar den Griff fahren und nahm eine entspanntere Haltung ein. Jetzt lächelte der Mönch und winkte sie mit beiden Händen heran.
Grazia raffte den Mantel, machte einen Knicks und gab ihm die Hand. Er neigte den Kopf und deutete zu einem grob zusammengezimmerten Tisch, der mitten auf der Lichtung stand. Zwei Bänke standen an den Seiten, beladen mit Topfpflanzen. Er beeilte sich, sie wegzuräumen, und wischte mit dem Ärmel seines Habits über die Sitzfläche.
»Bitte«, sagte er. »Setzt euch doch. Ihr habt gewiss Hunger. Wartet einen Augenblick.«
Er verschwand in der Blockhütte, kaum mehr als ein fensterloser Verschlag mit einem Dach aus Schilf. Daneben befand sich ein Unterstand für das Pferd. Grazia ließ die Tasche von der Schulter gleiten und schob sich auf eine der Bänke.
»Nun verrate es mir«, sagte Anschar, der es vorzog, einen Fuß auf die Bank zu stellen und sich umzuschauen. Gemächlich streifte er seinen Mantel ab, warf ihn ins Gras und machte sich daran, den Verband von seiner Hand zu wickeln. »Wieso ist er nicht das, was alle Welt von ihm behauptet?«
»Er ist durchaus so etwas wie ein Priester. Aber eben von unserem Gott, nicht von Inar.« Wenn sie sich nicht täuschte, gehörte der weiße Habit zu den Dominikanern. »Mehr weiß ich auch nicht. Er könnte irgendwann durch das Tor geraten sein. Aber wenn er schon so lange hier lebt, heißt das wohl, dass er den Rückweg nicht kennt.«
»Das erkläre ich gleich alles!«, rief der Mönch aus der Hütte.
»Gute Ohren hat er jedenfalls«, brummte Anschar.
Grazia konnte es immer noch nicht fassen. Sie kramte nach ihrem Taschentuch und tupfte sich übers Gesicht. Auch hier oben war es heiß, und sie verspürte Durst. Sie legte den Kopf zurück und füllte sich den Mund. Anschar sah ihr dabei interessiert zu. Es sah vermutlich reichlich kindisch aus, wie sie schluckte und ihr das Wasser aus den Mundwinkeln rann, aber einen Becher hatte sie ja nicht zur Hand. Er machte eine Geste in Richtung der Hütte, wie um sie daran zu erinnern, dass sie darauf achten solle, es nicht in Gegenwart des Mönchs zu tun. Da kam er auch schon heraus, mit einem Tablett vor der Brust. Schnell richtete sich Grazia kerzengerade auf.
»Darf ich fragen, wie du heißt?«, fragte sie.
»Ich bin Bruder Benedikt. Und du?«
»Grazia Zimmermann. Und das ist Anschar.«
»Oh, das sehe ich. Er ist einer dieser zehn berühmten Krieger.« Er stellte Becher und eine mit Fladenbrot gefüllte Schale auf den Tisch. »Das Zeichen auf deinem Arm ist mir natürlich nicht unbekannt, werter Herr. Jetzt habe ich doch tatsächlich den Wein vergessen.« Er hastete in seine Hütte zurück. Dort war lautes Schnarchen zu hören.
Anschar beugte sich zu ihr herab. »Jetzt sag mir aber nicht, dass er tatsächlich dein Bruder ist«, meinte er leise. »Ich bin ja bereit, vieles zu glauben, aber das?«
»O Anschar! Natürlich nicht, das sagt man nur so. Eigentlich müsstest du ihn auch so nennen.«
»Inar bewahre mich davor. Warum sollte ich
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