Das gläserne Tor
sich seit jeher.
Tuhrod strich ihr beruhigend übers Haar und gebot ihr mit Gesten, die Ruhe zu bewahren. Dann ging sie hinaus. Die Männer folgten ihr und rollten den Stein vor. Die Rothaarige starrte ihnen beunruhigt hinterher, hatte aber anscheinend begriffen, dass ihr nichts Böses drohte.
»Ist kein angenehmer Aufenthaltsort.« Betont gleichmütig hockte Anschar sich zu ihr. »Ich nehme allerdings nicht an, dass sie dich erst dann wieder hinauslassen, wenn ich meine Aufgabe erledigt habe. Das würdest du nicht aushalten.«
Sie deutete zum Stein und stieß unverständliche Worte aus, mit harten Zisch- und Knacklauten. Er hob den Finger an die Lippen, und sie schwieg.
»Wie heißt du?« Wie, bei Hinarsyas fruchtbaren Brüsten, sollte er sich mit ihr verständigen? »Streng dich an. Mein Leben könnte davon abhängen, wie es aussieht. Obwohl ich ja eher glaube, dass es keinen Unterschied machen wird. Aber was soll’s, es ist immerhin etwas, womit man sich die Zeit vertreiben kann. Dafür sollte ich den Göttern wohl danken. Also? Wie heißt du? Dein Name!«
Als Antwort brach sie in Tränen aus. Es schien ihr schwer
zuzusetzen, dass sie sich nicht verständlich machen konnte. Anschar bedauerte ihre Not, und sanft berührte er ihre Wange. Die Haut war zart, die Flecken ließen sich nicht ertasten. Er versuchte sich an dem aufmunterndsten Lächeln, dessen er derzeit fähig war, und ließ die Finger an ihrem Hals hinabwandern. Ob der Rest ihres Körpers wohl auch so befleckt war? Langsam schob er den Ausschnittsaum ein Stück hinunter. Nach den Monaten des Darbens genügte das schon, ihm das Gefühl zu geben, zwischen den Beinen platzen zu müssen. Und wenn er Glück hatte …
Ihre Hand flog auf sein Gesicht zu, er konnte sie gerade noch abfangen. Ein Wortschwall ergoss sich über sein Haupt. Bei der Dreiheit, er hatte ja mit einer Abfuhr gerechnet, schließlich bot er einen arg verwahrlosten Anblick, aber nicht mit solcher Empörung! Er hatte doch noch gar nichts getan.
Die Frau war gegen den Stein gerückt und schien sich in ihrem Gewand unsichtbar machen zu wollen. Selbst die Füße hatte sie daruntergesteckt.
»Ganz ruhig, Feuerköpfchen.« Beschwichtigend hob er die Hände. »Es tut mir leid! Ich werde es nicht wieder versuchen.«
Sie schniefte und zitterte, rührte sich aber nicht, als er sich noch einmal, jetzt mit unendlicher Vorsicht, nach ihr streckte. Mit dem Daumen strich er über ihre Wange und hielt ihn ihr vor die Nase.
»Tränen. Verstehst du? Tränen.«
Gebannt starrte sie auf seinen Finger.
» Trä-nen «, stammelte sie.
»Ja.«
»Ja?«
Er nickte. »Ja.« Inar steh mir bei, dachte er verdrossen. Erst jetzt ging ihm auf, wie mühsam es werden würde.
Grazia fand das Erlernen der Sprache leichter als das Körbeflechten. Gleich am ersten Tag hatte Tuhrod ihr ein Bündel Gras in die Hände gedrückt und gezeigt, was sie daraus machen sollte. Doch selbst Wochen danach hatte sie es erst zu einer unförmigen Tasche gebracht, in der sie ihre wenigen Habseligkeiten aufbewahrte.
Stattdessen versuchte sie sich nun am Weben von schmalen Bändern, für die es hier reichlich Verwendung gab. Die Tätigkeit lenkte sie wenigstens ab. Immer noch kam sie sich vor wie in einem Traum. Immer noch kamen ihr Zweifel, ob das alles wirklich geschehen war – der Sturz in die Havel, das Abtauchen in eine fremde Welt.
Wenn sie an ihre Familie dachte, kamen ihr die Tränen, und manchmal fragte Anschar sie, was sie plagte. Manchmal auch nicht, er hatte seine eigenen Sorgen. Er redete nicht darüber, aber jemand, der gefangen gehalten wurde, sah sich gewiss nicht auf der Sonnenseite des Lebens. Meistens hockte er in der Höhle, und sie sprachen durch den schmalen Spalt miteinander; nur ab und zu ließen sie ihn hinaus und banden ihn an wie einen Hund. Er ließ es stoisch über sich ergehen, doch sein Blick indes sprühte vor Zorn. Dann spannte sich sein Körper an, als wolle er seinen Peinigern an den Hals gehen. Einmal war es auch geschehen, da hatte er einem der Wüstenmänner, der ihn leichtsinnig gereizt hatte, den Ellbogen ins Gesicht geschlagen. In den folgenden Tagen hatte er in der Höhle an Händen und Füßen gefesselt ausharren müssen, und seine Laune war unerträglich gewesen.
Grazia gegenüber zeigte er sich zumeist friedlich. Sie spürte, dass ihm etwas an ihren Fortschritten lag.
»Argad ist das mächtigste der vier Länder der Hochebene. Es ist so mächtig, dass oft die ganze Hochebene gemeint
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