Das gläserne Tor
gelang, aber die Striche waren blass. Nun, er hatte Zeit. Möglich, dass die Wüstenmenschen ihn endlich töteten, wenn sie feststellten, dass er drauf und dran war, den Verstand zu verlieren. Ob er dann ebenfalls anfing, unverständliches Zeug zu brabbeln wie diese Frau?
Aber sie war nicht verrückt. Sie war nur fremd. Sein Volk
und das der Wüste, sie waren sich ebenfalls fremd, aber sie sprachen dieselbe Sprache. Die ganze Welt, soviel er wusste, sprach gleich. Zwar gab es feine Unterschiede. Die Bauern der Hyregor-Gebirgskette im Osten des Hochlandes redeten eine Zunge, die ungewohnt klang, und auch in Praned weit im Nordwesten war es so. Aber niemand hatte Schwierigkeiten, sie zu verstehen.
Kam sie vielleicht aus Temenon, jener Hochebene, die so weit entfernt lag, dass es seit Beginn des Fluches nur wenigen Menschen gelungen war, die Strecke zurückzulegen? Nein, diese Frau war viel fremdartiger, sie kam offenbar von woanders her. Ganz woanders.
Knirschende Schritte verrieten, dass sich mehrere Leute näherten. Anschar stand auf, entfernte sich vom Eingang und starrte abwehrbereit durch die Lücke. Es wurde dunkel, der Stein zur Seite bewegt. Fünf starke Männer waren dazu nötig. Sie machten schnaufend einem sechsten Platz, der geduckt hereinkam und einen Spieß vor sich hielt. Hinter ihm kam die Dorfherrin herein. An der Hand hielt sie die Rothaarige.
»Wir können uns nicht mit ihr verständigen«, fing Tuhrod ohne Umschweife an. »Wo sie herkommt, weiß niemand.«
»Ich auch nicht, das sagte ich bereits. Ich kenne diese Sprache nicht.«
»Ja, ich weiß.« Tuhrod wies auf die Frau, die in sich gekehrt dastand. »Sie ist verzweifelt. Wir müssen mit ihr sprechen, um herauszufinden, wer sie ist und woher sie stammt. Kein Mensch ist einfach plötzlich da.«
Anschar bemerkte, dass die Stirn der Rothaarigen in hilflosen Falten lag. »Sie war einfach da? Was soll das heißen?«
»Eine halbe Wegstrecke in nördlicher Richtung, am Fuß der Felsen, wurde sie gefunden, in seltsamer Kleidung. Dort, wo wir dem Herrn des Windes Gaben darbringen. Mehr wissen wir nicht.«
»Vielleicht hat euer Gott sie ja hingelegt, damit ihr sie opfert.«
Tuhrods Miene verhärtete sich. »Wir kämen nicht einmal auf den Gedanken, den Göttern einen Menschen zu opfern! Tut man das etwa im Hochland?«
»Nein. Ist das Gespräch damit beendet?«
»Sind alle deines Volkes so überheblich?«, fauchte sie mit hörbarem Ärger, was er befriedigt zur Kenntnis nahm. Sie musste den Kopf zurücklegen, um ihn ansehen zu können, was sie mit einem Stolz tat, den er für eine Wüstenfrau unangemessen fand. »Es geht um sie, nicht um dich, du argadischer Sturschädel! Und nun höre endlich zu. Wie es aussieht, ist sie gewillt, sich mit uns zu verständigen. Wir müssen ihr unsere Sprache beibringen – das heißt, du.«
»Ich? Seid ihr zu dumm, es selbst zu tun?«
»Niemand hier hätte dafür Zeit. Bald werden wir weiterziehen, bis dahin hat jeder hier alle Hände voll zu tun. Und bis dahin wirst du diese Frau so weit haben, dass man sich mit ihr verständigen kann. Wie du es anstellst, bleibt dir überlassen.«
»Warum sollte ich das tun? So oder so werde ich wohl nicht dabei sein, wenn ihr hier verschwindet. Und überhaupt: Wie lange willst du mich noch im Ungewissen lassen, was mit mir geschieht?«
»Wir erwarten den Ältesten unserer Sippe etwa in fünfzig Tagen zurück. Er wird dann über dich richten. Vielleicht ist er ja gewillt, milde mit dir zu verfahren. Aber bis dahin tue, was ich dir sage. Es ist nur zu deinem Besten. Bist du einverstanden?«
Er wollte seine Verachtung Tuhrod ins Gesicht spucken, aber dann nickte er widerwillig.
»Du wirst ihr nichts tun«, sagte sie. »Du wirst bei deinen Göttern schwören, dass du dich ruhig verhältst.«
»Was sollte ich ihr … Ja, bei Inar!«, schrie er. »Ich schwöre. Und jetzt verschwinde, du wirst mir lästig.«
Tuhrods Nasenflügel blähten sich. Sie tat einen tiefen Atemzug. Dann wandte sie sich der Fremden zu und drückte gegen ihre Schultern. Die Frau brauchte eine Weile, bis sie begriff, dass sie sich setzen sollte.
Widerwillig tat sie es und strich dabei das unförmige Gewand unter den Schenkeln glatt. Mit gestrecktem Rücken saß sie da, ein hilfloses Häufchen Elend. Ihre Augen waren verweint. Es schien, als habe sie der unverhohlene Hass erschreckt, den Anschar und Tuhrod einander entgegengeschleudert hatten. Aber die Menschen der Hochebene und die der Wüste hassten
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