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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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Einhornziegen das trocken aussehende Gras ab. Kinder hockten dazwischen und hoben die Köpfe. Auch die Frauen, die auf der freien Fläche zwischen den Zelten beisammensaßen und an einer Kochstelle irgendetwas zubereiteten, sahen auf, musterten sie und steckten tuschelnd die Köpfe zusammen. Sie alle sahen aus wie Nomaden oder Beduinenfrauen, steckten in ehemals bunt gefärbten, jetzt von der Sonne gebleichten Stoffen, mit Fransen und geflochtenen Schnüren verziert. Vor den Zelten hockten Männer, alte wie junge, in schlichtere Gewänder gehüllt, und schienen dem Nichtstun zu frönen.
    Die Menschen wirkten mehr als misstrauisch. Grazia zögerte.
Aber was blieb ihr anderes übrig, als auf diese Wilden zuzugehen?
    Sie sog die Luft ein, als ihre bloßen Füße den Sand berührten. Tuhrod deutete mit herrischer Geste zurück ins Zelt. Grazia schüttelte den Kopf. Ärgerliche Worte flogen ihr entgegen, doch dann hielt ihr Tuhrod aus Bast gefertigte Schuhe hin.
    »Danke«, murmelte Grazia. Es war nicht leicht, die Schuhe anzuziehen und gleichzeitig darauf zu achten, dass das Gewand nicht seitlich aufsprang und jedem ihre Wäsche darunter zeigte. Den Stoff fest um sich geschlungen, holte sie ihre Handtasche und stakste durch den Sand zu einem der Männer.
    »Verstehen Sie mich?«
    Die Blicke der Dorfbewohner stachen regelrecht in ihren Rücken. Kinder sprangen vor ihr fort und verkrochen sich in den Zelten oder im hüfthohen Gras. Aus ihrem Portemonnaie fischte sie ein Fünfmarkstück und hielt es dem Mann unter die hakenförmige Nase. »Ich bin nicht mittellos, sehen Sie?«
    Vorsichtig nahm er die Münze und drehte sie zwischen den Fingern. Dann gab er sie zurück und hob eine der Fellschnüre an, die von seinem Gürtel hingen. Er deutete auf die Münze, dann wieder auf die Schnüre. Grazia begriff: Dies war die Währung, die hier üblich war. Fellstreifen! Immerhin waren ihm Münzen nicht fremd.
    »Also, wenn ihr damit bezahlt, dann brauche ich wohl nicht zu fragen, ob es hier irgendwo ein Telephon gibt«, klagte sie. »Oder wenigstens eine Poststelle, wo ich telegraphieren kann. Aber ihr müsst mir doch sagen können, wo ich hier bin. Ist das Deutsch-Ostafrika? Ich habe eine Tante, die da wohnt. Sie heißt Charlotte. Ihr Mann ist bei der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft angestellt. Ist das hier Tansania? Versteht mich denn keiner? Kilimandscharo? Großer Berg?«
    Nichts. Keine Reaktion.
    »Are you subjects of the British Empire?« Sie drehte sich um die Achse und hob die zittrige Stimme. »Wer regiert dieses Land? Gibt es hier irgendwo Zeitungen? Irgendeine … irgendeine Zivilisation? O Gott, ich weiß ja nicht einmal, wie ich hergekommen bin. Ist das verrückt!«
    Gleich würde sie in Tränen ausbrechen. Sie wandte sich an die Frauen an der Kochstelle, die vor ihr zurückzuckten. »Ist denn hier niemand, der mich versteht?«, schrie sie, damit es das ganze Dorf hörte. Ein paar Frauen kicherten, andere schimpften leise. Mit einem Mal war Tuhrod bei ihr, fasste sie am Arm und brachte sie ins Zelt zurück, wo sie mit herrischer Geste auf den Schlafplatz deutete. Gehorsam sank Grazia in die Kissen und nahm einen Tonbecher entgegen, in dem eine grüne Brühe schwappte. Vielleicht war es ein Kräuterschnaps und somit genau das, was sie brauchte. Das Zeug schmeckte zwar nicht nach Alkohol, ansonsten aber fürchterlich. Es machte sie müde und beruhigte sie ein wenig.
    »Was mir passiert ist, glaubt mir kein Mensch. Da war dieser nackte Mann … und ich bin hier, das allein ist unfassbar. Aber das ist nicht alles, ich könnte diesen Becher mit Wasser füllen. Ja, wirklich. Doch woher kommt das alles? Und warum trifft es ausgerechnet mich? Diese Frage plagt mich mindestens genauso. Dass mich hier keiner versteht, macht alles nur noch schlimmer.« Sie nestelte an dem geliehenen Gewand herum und tupfte sich die Augen. »Aber ich muss wohl froh sein, dass man mich nicht in die Wüste hinausjagt.«
    Tuhrod kauerte sich vor sie, streckte Grazias Arm aus und fing an, die Fransen unterhalb des Handgelenks zusammenzuknüpfen. Offenbar war ihr nicht entgangen, dass Grazia ihre liebe Not mit dem offenherzigen Kleidungsstück hatte. Als sie fertig war, tippte sie an ihren Mund. Essen? Grazia
schüttelte den Kopf; in ihrem Magen lag ein Stein, da war kein Platz für Essen. Tuhrod klopfte auf die Felle. Aufseufzend gehorchte Grazia und legte sich hin.
    Schlafen, ja, das war das Beste. Schlafen und daheim im eigenen Bett

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