Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
Vom Netzwerk:
aufwachen.

    Jemand nieste ihr ins Gesicht. Grazia riss die Augen auf und sah etwas Dunkles über sich, das sie unwillkürlich mit der Hand abwehrte. Es war die neugierig zitternde Nase der Einhornziege. Die großen schwarzen Augen schienen um Zuneigung zu betteln. Grazia wischte sich mit dem ausladenden Gewand übers Gesicht und sah sich um. Enttäuscht stöhnte sie auf. Nichts hatte sich verändert. Nur, dass es dunkel war.
    Sie musste eine Weile geschlafen haben, ihre Blase drückte. »Wo geht man denn hier auf die Toilette?«, fragte sie leise die Ziege, die mit einem blubbernden Laut antwortete. »Dich verstehe ich fast besser als dein Frauchen. Ach, ich gehe wohl einfach vors Zelt.«
    Sie streifte die Bastschuhe über und tapste vorsichtig zwischen den Kissen hindurch ins Freie. Es war tatsächlich Nacht, aber eine sehr seltsame, denn das Mondlicht erhellte die Wüste so stark, dass sich die rote Färbung erahnen ließ. Jede Einzelheit war erkennbar, die Zelte warfen scharfe Schatten. Von überall her ertönten Schnarchgeräusche. Nur ein Mann schlenderte zwischen den Zelten umher, einen Wurfspieß in der Hand. Er bemerkte sie, beachtete sie aber nicht weiter, sondern setzte seinen Rundgang fort. Grazia schlug die andere Richtung ein, denn das fehlte ihr noch, dass ihr jemand bei ihrem Geschäft zusah. Der Gefesselte kam ihr flüchtig in den Sinn. Er hatte nicht so ausgesehen, als gehöre er hierher. Seine Haut war gebräunt gewesen, aber glatt. Seine Haare und Augen waren von dunklem Braun, die der Leute hier allesamt schwarz. Die Männer trugen buschige Bärte, seiner
jedoch hatte ausgesehen, als wachse er erst seit kurzem. War er vielleicht auch ein auf seltsame Weise Gestrandeter, so wie sie? Kannte er des Rätsels Lösung?
    Wieder begannen ihre Gedanken um die Frage zu kreisen, wie sie hierhergekommen sein mochte. Wie konnte jemand, der in Preußen in einen Fluss gefallen war, in einer Wüste aufwachen? Welche Möglichkeiten gab es überhaupt? Dass sie lange Zeit bewusstlos gewesen war und man sie hergebracht hatte? Wer hätte das tun sollen und warum? Sie hielt es für ausgeschlossen, für die Dauer einer so langen Schiffsreise geschlafen zu haben. Nein, es musste auf eine andere Weise geschehen sein … eine Weise vielleicht, die sich mit dem Verstand nicht erfassen ließ. Eben so wie ihre plötzliche Gabe, Wasser herbeizuzaubern.
    Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen. Der Boden bestand nicht nur aus Sand, vielmehr war er fest und stellenweise mit Geröll übersät. Beim näheren Hinsehen entdeckte sie überall kleine Pflanzen. Das war nicht überraschend, denn in einer gänzlich unwirtlichen Gegend hätte dieses Volk wohl kaum seine Zelte aufgeschlagen. Sie tappte durch ein hüfthohes Meer trockener Gräser, hockte sich darin nieder, hob das Gewand und streifte ihr Unterzeug herunter. Der Wind strich ihr ums nackte Gesäß.
    Wüste. Wasser. Gab es da einen Zusammenhang? Sie dachte an die Muscheln an Tuhrods Gewand.
    Mit den Händen formte sie eine Schale und konzentrierte sich darauf, sie zu füllen. Es war schwierig, vielleicht weil sie sich in einer trockenen Gegend befand, aber kurz darauf schüttelte sie die nassen Hände aus.
    Gedankenverloren betrachtete sie die sich sanft wiegenden Gräser im hellen Mondlicht. Der Mond war groß und rötlich – so ganz anders als daheim. Fasziniert musterte sie seine Oberfläche. Auch die war anders. Die Sterne, alles wirkte
hier fremdartig. Sie legte den Kopf in den Nacken, um ein vertrautes Sternbild zu finden. Offenbar befand sie sich in der südlichen Hemisphäre. Wo war das Kreuz des Südens? Sie drehte sich auf den Fersen um die Achse. Und erstarrte.
    Ein zweiter Mond. Eine schmale, bläulich schimmernde Sichel.
    Zwei Monde. Dies hier war nicht Deutsch-Ostafrika. Sie war weiter weg. Viel, viel weiter weg. Sie war in einer anderen Welt.
    Grazia schlug die Hände vors Gesicht und schrie.

4

    W enn man nichts zu tun hatte, konnte man auf merkwürdige Gedanken kommen. Das hatte Anschar in jenem Moment festgestellt, als er sich bei einem weiteren Versuch, sich von der Fessel zu befreien, tief in den Fuß geschnitten hatte. Jetzt prangte an der Felswand das rote Fingerbild des sagenhaften Schamindar. Anschar beschloss, Argads heiliges Tier mit der nächsten Essenslieferung zu verschönern. Der weiße, pappige Brei eignete sich sicher sehr gut für die Reißzähne und Krallen. Probehalber versuchte er mit dem Stein Muster in die Wände zu ritzen. Das

Weitere Kostenlose Bücher