Das gläserne Tor
erst nach Jahrzehnten … »All das ist seit Jahren – zehn Jahre. Am Ende der – der Jahre war diese … sie war eine Wildnis. Die Insel .«
»Insel?«
»Ein Land im Wasser, klein. Da war ich, davor … bevor ich durch das Wasser – irgendwie – herkam.« Aufstöhnend ließ sie das Geflecht sinken. »Ich kann nicht!«
»Du lernst sehr schnell.« Er hockte sich wieder hin, seine Züge hatten sich entspannt. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich für so etwas einen passablen Lehrer abgebe. Erzähl etwas in deiner Sprache.«
Der Aufforderung kam sie nur zu gern nach. »Ich erzähle von einem Mann. Er stammt aus meinem Land. Er heißt Herr von Ribbeck.« Sie räusperte sich.
»Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland,
Ein Birnbaum in seinem Garten stand,
Und kam die goldene Herbsteszeit
Und die Birnen leuchteten weit und breit,
Da stopfte, wenn’s Mittag vom Turme scholl,
Der von Ribbeck sich beide Taschen voll,
Und kam in Pantinen ein Junge daher,
So rief er: ›Junge, wiste’ne Beer?‹
Und kam ein Mädel, so rief er: ›Lütt Dirn,
Kumm man röwer, ick hebb’ne Birn.‹<
So ging es viel Jahre, bis lobesam
Der von Ribbeck auf Ribbeck zu sterben kam.«
Anschar unterbrach sie mit einem belustigten Schnaufen. »Was ist das nur für eine harte Sprache? Überall zischt und
spuckt sie, schauderhaft.« Plötzlich wurde sein Blick finster – sehr finster. Doch er galt nicht ihr, denn sie hörte die Frauen aufschreien. Die Tage waren friedlich gewesen, aber von einer Sekunde auf die andere schien das ganze Dorf in Aufruhr zu geraten. Die Männer stürzten aus den Zelten, alle strebten in eine Richtung, fort von der Felswand. Nur die Kinder und ein paar ältere Frauen blieben zurück, um die unruhig meckernden Ziegen einzusammeln und in ein Gatter zu sperren.
Grazia sah in der Ferne eine Staubwolke.
»Was ist das?«, fragte sie, mehr zu sich selbst, doch Anschar erwiderte düster:
»Wahrscheinlich der Mann, den Tuhrod angekündigt hat. Er kommt, um ihrem Gott zu opfern. Hoffentlich nicht mich.«
Er flog regelrecht auf die Füße, als fünf Männer herangestürmt kamen. Grazia machte, dass sie außer Reichweite kam. Sie umringten ihn in gebührendem Abstand, und erst, als er sich überwand, ihnen den Rücken zu zeigen und die Hände über dem Gesäß zu verschränken, wagten sie es, ihn anzufassen. Rasch waren seine Hand- und Fußgelenke gefesselt, ebenso rasch der Felsblock beiseitegerollt. Dann erst schnitten sie sein Halsband durch. Anschar verschwand in seinem dunklen Gefängnis, und als der Stein wieder an Ort und Stelle saß, liefen die Männer zu den Zelten zurück.
Grazia lugte durch den Spalt. Wie immer hatte er sich dicht neben dem Block niedergelassen, als wolle er sich verstecken.
»Die schwachsinnigen Tiere haben vergessen, die Handfesseln zu entfernen!«, schrie er in die Düsternis. »Inar verfluche sie dreimal!«
Grazia wandte den Blick von dem Felsen, raffte sodann ihr lästiges Gewand und folgte dem Lärm. Alles drängte sich auf der anderen Seite des Dorfes. Als sie das äußerste Zelt hinter
sich gelassen hatte, stieß sie beinahe gegen eine Gruppe Frauen, die ausgelassen winkten. Noch sah sie nichts als die sich nähernde ockerfarbene Wolke, aber dann lichtete sich diese und gab den Blick auf ein zotteliges Reittier frei. Es trug einen Mann, der von einem Baldachin beschirmt und von bewaffneten Männern begleitet wurde. Krumm saß er im Sattel, als habe ihn die lange Reise all seiner Kräfte beraubt. Tuhrod eilte ihm entgegen, streckte sich zu ihm hoch und berührte seine Hände. Unter der Kapuze war ein freundliches Gesicht zu erkennen. Seine Begleiter lenkten das Tier zur Dorfmitte. Die Menschen machten eine Gasse für ihn frei, Frauen brachten Matten und warfen sie eilends auf den Boden. Er winkte einen seiner Männer heran, der ihn aus dem Sattel hob und vorsichtig auf die Füße stellte.
Allem Anschein nach musste es sich um den Stammesältesten handeln, dachte Grazia. Tuhrod verbeugte sich tief vor ihm und berührte auffordernd seine rechte Hand, die er in einer segensreichen Geste auf ihre Schulter legte. Über sie hinweg ließ er den Blick schweifen, bis er an Grazia hängen blieb. Vor Staunen stand ihm der Mund offen.
Er klopfte Tuhrod auf die Schulter, sodass sie sich aufrichtete und beiseitetrat. Als Grazia sich zögernd näherte, wedelte sie abwehrend mit den Händen.
»Verzeih«, sagte Grazia und machte unwillkürlich einen Knicks. »Darf ich sprechen dich?«
Er streckte
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