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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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das Vogelhaus war ein Opfer des Feuers geworden; die Vögel flatterten im brennenden Geflecht umher. Anschar hatte das Gefühl, die Hitze senge ihm sämtliche Härchen vom Leib. Sie mussten hier heraus, bevor es zu spät war. Er hob Grazia auf die Arme und eilte durch eine der Türen zwischen den Pfeilern. Der Gang, der vor ihm lag, wirkte verlassen. Qualm machte die Sicht schwierig. Anschar holte tief Luft, warf sich Grazia über die Schulter und rannte mit ihr fast blindlings durch den Palast. Schnell hatte er die Freitreppe erreicht. Der Vorhof lag verlassen da. Die Flammen, die sich überall durch trockenes Holz fraßen, schienen eine tote Stadt anzugreifen. Anschar lief durch das Palasttor. Selbst hier brannte alles – der Toraufbau, die Weinhandlung. Hatte der Kampf so lange gedauert? Unter den Sandalen spürte er heißen Erdboden; selbst dieser schien jeden Augenblick in Flammen aufzugehen. Beißende Luft fraß sich in seine Lungen. Grazia glitt ihm aus den Händen. Lebte sie überhaupt noch? Er sackte über ihr zusammen. Rasselnd holte er Luft, aber was er in seine Lunge quälte, ließ sich nicht atmen.
    Sie flüsterte etwas, ohne die Augen zu öffnen. Er konnte es
nicht verstehen, vielleicht hatte er es sich auch nur eingebildet. Dennoch gab es ihm Kraft. Wasser floss aus ihren Fingern und benetzte sein geschundenes Gesicht. Er nahm einen tiefen Atemzug, packte sie und stand auf. Nur noch wenige Schritte. Die rettende Brücke war nicht weit. Doch auch sie hatte das Feuer schon erreicht.
    Auf der anderen Seite herrschte Verwirrung. Wirkte Heria wie ausgestorben, rannten hier die Menschen kopflos über die Straßen. Andere standen an der Brücke und starrten wie gebannt auf das, was auf Argadye zukam. Einige Herscheden hatten sich zu ihnen geflüchtet. Anschar erkannte den Weinhändler, der die Hände zum Himmel gereckt hielt, als wolle er die Götter anklagen, dass sein Besitz soeben dem Brand zum Opfer fiel. An den Fenstern und auf den Terrassen des Palastes drängten sich fassungslose, verängstigte Gesichter.
    Kaum jemand beachtete Anschar, als er mit Grazia auf den Armen über die Brücke lief. In seine Schultern bissen glühende Aschebrocken, die er missachtete. Als er Argadye fast erreicht hatte, drehte er sich um.
    »Ich habe das begonnen«, sagte er. »Aber, ihr Götter, muss es wirklich so enden?«
    Er legte Grazia auf den Boden und hielt sie im Arm. Wieder klopfte er gegen ihre Wange. »Feuerköpfchen, du hast noch eine Aufgabe vor dir. Heria brennt, und gleich wird es mit Argadye nicht anders aussehen, wenn du nichts dagegen tust.«
    Ihre Lider hoben sich unendlich langsam und senkten sich wieder. Ihr zitternder Körper erschlaffte. Nein, dachte er, du musst das jetzt noch schaffen. Du musst! Das Feuer fraß sich in das Holz der Brücke. Schreiend wichen die Menschen zurück.
    »Das ist der Fluch der Götter!«, schrie eine Frau.

    Anschar blickte über die Schulter zurück. Die Frau raufte sich die Haare, als wolle sie das sterbende Land beklagen. Der Fluch der Götter, erfüllte er sich jetzt?
    »Nein!« Er rüttelte Grazia am Kinn. »Mach Wasser. Nur ein letztes Mal!«
    Ihre Hand lag auf dem Brückenboden. Ihre Finger bewegten sich. Und dann sah er ein Wasserrinnsal hervortreten. Quälend langsam wuchs es an und kroch über die Brücke, bis es auf der anderen Seite zischend in den Flammen verdampfte.
    »Das genügt nicht«, rief er. »Streng dich an. Streng dich an!«
    Die geschwollenen, blutigen Lippen bewegten sich. Es kamen Worte in ihrer Sprache; keines verstand er. Verzweifelt drückte er sie an sich, küsste das geschundene Gesicht und wiegte sie. Schlagen wollte er sie, anschreien, durchrütteln. Stattdessen strich er begütigend über ihre Wange. Tränen flossen heraus, und er wusste nicht, waren es seine oder ihre. Diese dumme argadische Angewohnheit, am Ende würde sie noch ausreichen, das Feuer zu löschen. »Mach weiter, Feuerköpfchen«, flüsterte er ihr zu. »Weine. Weine …«

EPILOG
    D er Himmel war bleiern, die Luft rau und schwer zu atmen. Grazia presste eine Hand auf die Kehle und hustete. Es wollte nicht enden. Ihre Lunge schmerzte – nein, ihr ganzer Körper. Mit der anderen Hand rieb sie sich die Augen. Da war die Schlucht, dort drüben Heria. Die Fliesen der Torpfeiler waren geschwärzt. Die Mauern des Palastes. Die Ruinen der Häuser rund um den Platz. Überall kräuselten sich Rauchfahnen über den Dächern. Brannte es noch? Sie sah Menschen zwischen den Trümmern

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