Das gläserne Tor
wusste, dass er es konnte, aber er wusste jetzt auch, dass es schwieriger war, wenn man sich um jemanden sorgte.
Anschar nahm einen letzten tiefen Atemzug. Langsam machte er zwei Schritte zurück, um Platz für den Wurf zu haben.
Es war wie Metall. Anschar hatte es ihr geschildert, und genauso fühlte sich der unsichtbare Behälter an. Aber das war es nicht, was Grazias Aufmerksamkeit fesselte. Sie hatte ihn wiedergefunden – ihn, den letzten Gott, den Gott ohne Namen. Ihn, der sie umarmt, der sie geküsst und ihr seine Gabe geschenkt hatte. Erkannte auch er sie wieder? Ja, das tat er, sie sah es unzweifelhaft in seinen silbrigen Augen. Gefangen in Wasser, das ein Teil von ihm war, schwamm er in seinem Gefängnis und blickte von oben auf sie herab. Seine Hände drückten gegen die unsichtbare Röhre; seine schwarzen Haare schwebten wie ein großer Fächer im Wasser. Er war nackt, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Diesmal machte es ihr weniger aus, seine Männlichkeit zu betrachten. So fremd war ihr das nicht mehr, und in dieser Lage war keine Zeit, sich darum Gedanken zu machen. Wahrhaftig war er das schönste Geschöpf, das sie je gesehen hatte. Ein Gott, als hätten ihn antike Bildhauer zum Leben erweckt, mit kräftigen Muskeln und sehnigen Gliedern. Und einem Gesicht, das beinahe kindlich wirkte. Die großen Augen verrieten seine Hilflosigkeit. Es war kaum zu glauben, dass ein so sanft wirkendes Wesen eine Bestie wie den Schamindar liebte.
Er ist keine Bestie. Er ist nur traurig, und das macht ihn zornig. Hat er dir wehgetan?
Der Gott hatte die Lippen nicht bewegt, er sah sie nur an. Die Stimme hallte in ihrem Kopf.
Nein, dachte sie und lächelte. Er hat mich nur erschreckt.
»Sag, was hat er mit dir zu schaffen?«, raunte Mallayur in ihr Ohr. »Du kennst ihn, nicht wahr? Ich sehe doch, dass ihr euch kennt. Tochter und Vater sind vereint. Du bist eine Nihaye, und wenn du es noch so oft abstreitest.«
Sie hielt es für möglich, dass sie so etwas wie eine Adoptivtochter war. Aber mochte Mallayur glauben, was er wollte,
das kümmerte sie nicht. Sie schwieg. Sein harter Griff um ihren Hals machte es ohnehin schwer, etwas zu sagen.
»Vielleicht hört er ja auf dich«, sagte er. »Ich bin es leid, auf ihn einzureden. Ich habe alles versucht. Alles! Sag du ihm, er soll Hersched bewässern. Dann lasse ich ihn heraus.«
Ich diene ihm nicht , drang es in ihren Kopf. Sie fragte sich, ob der Gott so auch mit Mallayur sprach.
Nein , kam die Antwort. Ich schweige .
Hast du wirklich nicht die Macht, dich zu befreien?, fragte sie ihn.
Nein.
Der Gott senkte den Kopf, als beschäme es ihn.
»Was ist?«, drängte Mallayur.
Grazia schluckte. »Er hat abgelehnt«, sagte sie heiser.
Der Griff lockerte sich ein wenig. »Du hast ihn ja noch gar nicht gefragt!«
»Aber er hat es mir gesagt. Ich kann nichts machen. Und das will ich auch gar nicht.«
»So!« Mallayur drehte sie herum und stieß sie in die Arme des Palastwächters. »Und wenn ich ihn nun zwinge, indem ich dich zu töten drohe? Was dann? Werdet ihr beide dann gefügiger?«
Die Nihaye lachte. Der Gott bewegte die Füße, als wolle er nach oben schwimmen, hinaus aus dem Behälter. Aber auch dort gab es keinen Weg. Das Wasser schwappte gegen eine unsichtbare Decke.
»Ah, der Gedanke erschreckt ihn.« Mallayur gab dem Wächter einen Wink, und der hielt wieder den Dolch an Grazias Kehle. »Gott ohne Namen, sieh dir die Klinge an ihrem Hals an.«
Dumpf schlugen die Hände des Gottes gegen die Barriere. Das Wasser brodelte. Grazia glaubte einen Tränenstrom zu sehen, der aus seinen Augen schoss – er war wahrhaftig ein
argadischer Gott. Ein scharfer Schmerz an ihrer Kehle ließ sie ihn für einen Augenblick vergessen. Sie warf den Kopf zurück, wollte sich an den Hals greifen und schreien. Etwas flog heran und schlug in den Körper des Mannes hinter ihr. Der Druck auf ihre Kehle ließ nach. Das Geschoss verschwand aus ihrem Blickfeld, und dann hörte sie hinter sich einen dumpfen Aufprall. Sie machte einen Satz nach vorn, bevor sie es wagte, sich umzudrehen. Der Herschede lag auf dem Rücken. Seine Hände umklammerten einen Speerschaft, der ihm aus der Brust ragte, dicht oberhalb des Herzens. Er gab keinen Laut von sich, stierte nur verblüfft in den Nachthimmel. Sein Körper zuckte und erschlaffte.
Mallayur stellte einen Fuß auf seine Schulter, riss den Speer an sich und wirbelte herum. Die blutige Spitze deutete in die Richtung, aus der sie gekommen
Weitere Kostenlose Bücher