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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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sich mit dem Ellbogen Platz zu verschaffen.
    Grazia griff nach dem Honigtöpfchen und betupfte ungeduldig eine Brotscheibe. Derweil setzte sich Friedrich an die andere Seite des Tisches und legte den Kasten auf die Knie.
    »Bitte lass mich doch hineinsehen«, drängte sie ihn, aber er schien entschlossen, sie warten zu lassen, bis sie gegessen hatte.
    »Kind, iss anständig!«, ermahnte sie ihr Vater. Errötend zupfte sie ein Haar vom Brot, das sich im Honig verfangen hatte, und versuchte es von der Hand zu schütteln. Er hielt die Hände vor dem Bauch verschränkt, über dem sich deutlich die Weste spannte, und musterte sie wohlwollend. Dann nahm er wieder sein Zigarrenetui zur Hand und spielte damit herum, während Friedrich auf ihre Hände starrte. Sie machte eine Faust, damit er nicht ihre angeknabberten Nägel sah. Hastig spülte sie mit einem Schluck Tee den letzten Bissen hinunter und leckte sich die Finger. Schon wollte sie fragen, ob sie den Inhalt des Kastens endlich sehen durfte, als Justus durch die Balkontür gesprungen kam.
    »Der Photograph kommt! Er steigt gerade aus dem Kremser!«
    »Dann nichts wie hinunter, Junge, und hilf ihm beim Tragen.« Der Vater nestelte eine Münze aus der Hosentasche und gab sie ihm. »Hier, für den Kutscher.«
    Justus’ Wangen glühten vor Aufregung, und auch Friedrich schien vergessen zu haben, dass er Grazia etwas zeigen wollte. Sie neigte sich vor, um bittend seine Hand zu berühren, aber da erschien die Mutter, mahnte den Jungen mit erhobenem Finger, nicht so laut zu sein, und winkte sie zu sich. Grazia
wollte protestieren, aber sie wusste schon, das hatte keinen Zweck. Innerlich tief aufseufzend, folgte sie ihrer Mutter zurück in ihr Zimmer.
    »So weit kommt es noch, dass dich sogar der Herr Photograph mit offenen Haaren sieht«, sagte die Mutter. »Willst du dich nicht lieber wieder ins Bett legen?«
    »Bloß nicht!«
    Die Mutter schloss die Tür und schob einen Stuhl vor die Frisierkommode. Ergeben ließ sich Grazia darauf nieder. Draußen hörte sie Schritte und den Photographen, der sich über das anhaltend trübe Wetter beklagte. Die Mutter füllte einen Porzellanbecher mit dem Rest aus dem Waschwasserkrug und drückte ihn Grazia in die Hand.
    »Was soll eigentlich Friedrich von dir denken?« Schwungvoll legte sie ihr einen Frisierumhang um die Schultern. »Früher hätte es das nicht gegeben, dass eine Frau so unordentlich vor ihrem Zukünftigen erscheint. Dein Vater ist viel zu nachsichtig mit dir.«
    Grazia unterließ es, mit den Schultern zu zucken, und hielt den Becher hoch, damit ihre Mutter den Kamm eintauchen konnte. »Hast du mich je gefragt, was ich über Friedrich denke?«
    »Mit achtzehn Jahren kann man noch gar nicht wissen, was man da denken soll. Aber gut! Sprich dich aus.«
    »Oh … nun, er ist nett.« Sie musste überlegen, schließlich hatte ihre Mutter sie noch nie dazu aufgefordert. »Ich mag ihn ja. Aber er ist irgendwie ein bisschen zu streng für meinen Geschmack.«
    »Das kommt dir so vor, weil er um einiges älter ist. Das gibt sich mit der Zeit.«
    Aus den Augenwinkeln beobachtete Grazia, wie die Tropfen vom Kamm fielen, sobald die Mutter ihn aus dem Wasser nahm. Was sieht er in mir?, fragte sie sich und betrachtete den
Verlobungsring an ihrer linken Hand. Wenn er von dem Grab sprach, war Feuer in seinen Augen. Wenn er sie ansah, loderte es auch, aber nicht immer und schon gar nicht so stark.
    »Dass sich Brautleute lieben müssen, sind neumodische Flausen«, unterbrach die Mutter ihre Gedanken. »Das kommt von dem ganzen romantischen Schund in den Buchläden. Liebe entsteht mit der Ehe und wächst langsam. Was die jungen Leute heutzutage Liebe nennen, ist doch nur flüchtige Tändelei, die dem Alltag nicht standhält. Sei froh, dass du so einen ernsten und fleißigen Mann bekommst. Obwohl es ja durchaus anspruchsvollere Tätigkeiten gäbe, als in der Erde zu wühlen.«
    Der Kamm fiel zurück in den Becher. Nun wurde Grazias Kopf mit Nadeln traktiert. Mit einem starren Blick in den Spiegel wartete sie auf das Ende der Prozedur. Sie fand, dass eine toupierte Stirn und ein Knoten auf dem Hinterkopf mühelos die zehn Jahre überbrücken halfen, die sie von Friedrich trennten. Als die Mutter ihr auf die Schulter klopfte, schrak sie zusammen, stand auf – und schüttete einen Schwall Wasser auf den Boden.
    »Kind! Was machst du denn da?«
    Grazia starrte nach unten, wo der Kamm in einer Wasserlache lag. Hätte der Becher nicht halb leer

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