Das gläserne Tor
nahm sie die Hände fort. Und sah nur noch seine Finger, die sich an die Kante des Stegs klammerten, so fest, dass Holzsplitter herausbrachen. Ohne nachzudenken, warf sie sich nach vorn und versuchte seine Hände zu greifen. Das leuchtende Wasser umspülte seine Schultern, das Licht pulsierte stärker als zuvor und schien an ihm zu zerren. Blankes Entsetzen stand in seinen Augen, der Regen prasselte auf sein Gesicht. Sie umklammerte seine Handgelenke, wohl wissend, dass sie nichts gegen das ausrichten konnte, was ihn in die Tiefe zog.
Verzeih mir!
Seine Finger lösten sich vom Steg, glitten durch ihre Hände. Er versank im Wasser.
Das Licht erlosch. Es blieb nur ein kaum wahrnehmbarer Schimmer.
»So schnell wird man durch einen Grabfund nicht zu einem zweiten Schliemann, und die Pfaueninsel ist nicht Troja. Eine kleine Sensation haben wir hier allerdings.«
Die kraftvolle Stimme ihres Vaters, die durch das geöffnete Fenster drang, schreckte Grazia aus dem Schlaf. Sie warf einen Blick zum Wecker, der auf dem Nachttisch stand. Fünfzehn Uhr! Abrupt setzte sie sich auf und warf die Bettdecke zurück. Dann atmete sie tief durch, tapste zum Fenster und lehnte sich hinaus. Auf dem Balkon des Nebenzimmers stand Carl Philipp Zimmermann, ihr Herr Vater, und klappte sein Zigarrenetui auf. Mit Bedacht wählte er eine Zigarre, knipste das Ende ab und warf es hinunter auf die Straße. Als Nächstes
holte er aus der Westentasche das Streichholzetui, dessen Inhalt er sich ebenso sorgfältig widmete. Derweil lehnte Friedrich am schmiedeeisernen Geländer und strich sich zufrieden lächelnd den Schnurrbart glatt. Er sah gut aus mit seinem dunkelblonden Haar und den kräftigen Schultern, aber fremd war ihr der zehn Jahre ältere Mann immer noch, obwohl er ihr schon vor einem Jahr vorgestellt worden war, als Sohn eines befreundeten Professors. Ihr Vater hatte geglaubt, ihr eine Freude zu machen, da er Archäologie studiert hatte. Nicht nur das, Friedrich hatte sogar Heinrich Schliemann kennen gelernt. Er war in dessen Haus in Athen gewesen, wo goldene homerische Verse an den Wänden prangten und die Hausdiener auf die Namen von Sagengestalten hörten. So etwas wollte sie auch: einen Mann, der verrückt genug war, einen ganzen Salon mit einem Mosaik auslegen zu lassen, das den Zweikampf zwischen Achilleus und Hektor zeigte. Einer, der sie bei seiner Arbeit um sich haben wollte, so wie Schliemann seine Sophia. Der ihr beim Frühstück zuhörte, wenn sie aus dem erstmals übersetzten Gilgamesch-Epos vorlas. Oder aus den eher trockenen Schriften ihres Vaters. Die Gelehrtentochter würde einen Gelehrten ehelichen und stets Verständnis für das aufbringen, was er tat. Eine ideale Verbindung, mit der beide glücklich sein sollten.
»Eine kleine Sensation?«, rief Friedrich. »Sie könnte eine große werden, je nachdem, was die Gegend um das Grab noch birgt! Bisher wissen wir ja wenig. Das Grab könnte Teil einer größeren Siedlung sein.«
»Einer havelländischen Hochkultur?« Ihr Vater wiegte zweifelnd den Kopf. »Genauso gut könnte es von Reisenden aus dem Schwarzmeergebiet angelegt worden sein.«
»Mit Verlaub, ich halte das Grab nicht für skythisch. Wie auch immer, was es zu finden gibt, will ich finden, und wenn ich die halbe Insel auf den Kopf stellen muss.«
»Bei allem wohlwollenden Interesse der Öffentlichkeit für Geschichte, dafür bekommen Sie keine Genehmigung. Die Pfaueninsel kann man nicht auf den Kopf stellen.«
Die buschigen Brauen des Vaters hatten sich streng zusammengeschoben. Grazia lächelte in sich hinein. Als klassischer Philologe war er eben ein Mann der Bücher, nicht der Hacken, Spaten und Pinsel. Gern wäre sie auf der Stelle hinübergelaufen, um ihm die Stirn glatt zu küssen. Ihre Blicke trafen sich, und bevor er ärgerlich werden konnte, dass sie im Nachthemd an ihrem Fenster stand, wich sie ins Zimmer zurück, wo es an der Tür klopfte. Ihr kleiner Bruder stürzte herein und blieb wie angewurzelt stehen, als besinne er sich jetzt erst darauf, dass man nicht in das Zimmer einer Dame stürmte.
»Justus!«, tadelte sie ihn und sank zurück aufs Bett. »Was ist denn?«
»Ich hab’s gesehen!« Er trat zu ihr und flüsterte aufgeregt: »Was der Friedrich in seinem Kasten hat.«
»Für dich Herr Mittenzwey. Von welchem Kasten redest du?«
»Ach, das kannst du ja gar nicht wissen. Also, der Herr Mittenzwey hat ihn vorhin gebracht, um ihn Papa zu zeigen. Da drin hat’s geblitzt und geblinkt, so
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