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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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was hast du noch nicht gesehen. Wie geht’s dir eigentlich?«
    »Gut.«
    »Siehst aber nicht so aus.«
    Sie blinzelte in das Spiegelbild über ihrer Frisierkommode: ein vom Schlaf aufgequollenes Gesicht, über und über mit Sommersprossen übersät, die es jetzt zu dieser Jahreszeit besonders schlimm trieben. Darum herum eine Korona flammend roten Haares, lockig, zerzaust und sich gegen jedes Bemühen, es in Form zu bringen, zur Wehr setzend. Der Zopf, in den Grazia es zu bändigen versucht hatte, war schon wieder halb aufgelöst. Schrecklich.

    »Hau ab, du Lausejunge.«
    Der zehnjährige Bengel grinste von einem Ohr zum andern und rannte wieder hinaus. Grazia rieb sich die Augen. Vor drei Tagen hatte Friedrich sie vollkommen durchnässt auf dem Steg gefunden und nach Hause gebracht, hier in die Stadtwohnung ihrer Eltern. Soweit sie wusste, hatte er seitdem weiter am Grab gearbeitet, während sie in ihrem Zimmer lag, umsorgt von den Eltern, dem Bruder, dem Dienstmädchen. Sogar ein Arzt war gekommen, hatte sie untersucht und nichts festgestellt. Sie fühlte sich nicht krank, auch nicht im Kopf, wenngleich ihre Erzählung verrückt geklungen hatte. Der Arzt hatte die Vermutung geäußert, sie sei ausgerutscht und in den Fluss gefallen. Und obwohl sie nicht schwimmen konnte, hatte sie es irgendwie wieder zurück auf den Steg geschafft. Die Meinung ihrer Mutter war, dass sie das Ganze vergessen sollte.
    Den Fremden vergessen? Grazia sah ihn vor sich. Die seidig glänzenden Haare. Der Blick, der sie an sich gezogen hatte. Sein Körper. So vollkommen. Als sei er gar kein Mensch, sondern das fleischgewordene Idealbild eines Menschen.
    Sie läutete das Glöckchen auf ihrem Nachttisch. Im Salon hörte sie die Mutter, wie sie Justus zurechtwies, die Nase nicht zu dicht an den Kasten zu halten. Erneut klopfte es, diesmal verhaltener. Das Dienstmädchen kam herein, ein Tablett mit Tee, Honig und zwei gebutterten Stullen in der Hand. »Guten Morgen, Fräulein Grazia! Wie geht es Ihnen heute?«
    Grazia seufzte. Anfangs hatte sie es ja noch angenehm gefunden, den Tag im Bett zu verbringen, aber jetzt hatte sie wirklich genug davon. »Gut, Adele, wirklich. Bitte bring mir Waschwasser, ich will aufstehen. Mir tun vom ewigen Herumliegen ja schon die Knochen weh.«
    »Ob das Ihrer Frau Mutter gefällt?« Adele stellte das Tablett auf dem Nachttisch ab und sah Grazia prüfend an. »Ein
bisschen frische Luft täte Ihnen sicher gut. Außerdem haben die Herren im Salon … Also, das müssen Sie sich ansehen!«
    Jetzt war Grazia wirklich neugierig, was Friedrich so Wundersames in seinem Kästchen hatte. Sie wartete, bis Adele die Waschschüssel gefüllt hatte, entledigte sich ihres Nachthemds und wusch sich mit dem lauwarmen Wasser. Rasch schlüpfte sie in ihren Unterrock, nahm das Korsett vom Stuhl und rief Adele herein, die vor der Tür gewartet hatte, damit sie ihr beim Schnüren half. »Mach hinne, Adele«, trieb sie das Mädchen an. »Bald ist Kaffeezeit, und dann muss ich ewig warten.«
    »Keine Sorge«, erwiderte Adele gut gelaunt. »Ihr Herr Vater hat gesagt, dass er seinen Nachmittagskaffee heute später möchte. Er hat einen Photographen bestellt. Wahrscheinlich wegen dieses Fundstücks.«
    Ein Grabfund! Grazia ließ sich in die Kleider helfen, schlüpfte in die Pantoffeln und eilte hinüber in den Salon, wo sich ihr Vater und Friedrich inzwischen in den Sesseln vor der Bibliothek niedergelassen hatten. Auf dem Teetisch lag ein glänzendes Mahagonikästchen, das in der Tat geheimnisvoll aussah. Der Vater, der soeben seine Taschenuhr zuklappte und in die Westentasche steckte, sah auf.
    »Wo bleibt nur der Photograph? Kindchen, lass nicht deine Mutter sehen, dass du mit zerzausten Haaren herumläufst. Was soll denn Friedrich denken, hm?«
    »Ich denke, dass sie aussieht wie Daphne, die vor Apoll flieht«, murmelte Friedrich, der sich erhob und einen Diener machte. »Wäre ich ein Maler, würde mir dieses Motiv jedenfalls vorschweben. Guten Tag, Grazia.«
    »Guten Tag, Friedrich.« Das Kompliment war steif geäußert, dennoch errötete sie. Er konnte ja nicht ahnen, wie sehr er die Wirklichkeit damit getroffen hatte. Sie trat an den Tisch, streckte die Hand vor und ließ sie sich küssen,
wobei sie den Kasten beäugte. Friedrich schob ihr den Sessel zurecht, während sie sich setzte. Schon wollte sie nach dem Kasten greifen, da kam Adele mit dem Tablett. Schnell nahm Friedrich ihn an sich, als das Dienstmädchen Anstalten machte,

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