Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
Vom Netzwerk:
etwas Skandalöses noch einmal passiert. Meine Braut, durchnässt am See liegend und von einem nackten Mann plappernd! Du kannst Gott dafür danken, dass keine Ausflügler in der Nähe waren. Sie hätten sich die Mäuler zerrissen!«

    Sie schluckte. »Das stimmt wohl, aber es war doch nicht meine Schuld. Es ist ja auch gar nicht nötig, dass ich ans Ufer gehe. Du hattest doch bisher nichts dagegen, wenn ich deiner Arbeit zusah?«
    »Dich aufs Betteln zu verlegen, wird dir nichts nützen. Und diskutieren will ich mit dir auch nicht.«
    »Heißt das, ich darf gar nicht mehr zur Ausgrabungsstätte?«
    Mit verkniffener Miene wandte er sich ihr wieder zu. »Vorerst nicht. Ich möchte, dass du das akzeptierst. Und bitte, Grazia …«
    »Ja?«
    »Versuch nicht, deinen Vater zu beschwatzen, dass er mich umstimmt. Du würdest damit meine Autorität untergraben. Versprich mir das.«
    Sie schluckte wieder. So ein Gnatzkopp, dachte sie. Wollte er wirklich, dass sie als ordentliche Tochter und Braut ihren Platz ausschließlich zu Hause einnahm und nicht dort draußen bei seiner Arbeit? Tränen traten ihr in die Augen. Nicht wegen seines strengen Auftretens, sondern weil sie plötzlich befürchtete, dass er das immer von ihr verlangen würde. Ihr Vater war wirklich zu nachsichtig mit ihr gewesen, sonst würde sie nicht anders als ihre Mutter darüber denken.
    »Ist gut«, presste sie heraus.
    »Schön, das freut mich. Setz dich ein wenig an die frische Luft. Das tut dir gut.« Er schenkte ihr ein Lächeln, das wohl versöhnlich wirken sollte, und gesellte sich zu ihrem Vater. Dieser steuerte seinen Sessel vor der Bibliothek an, um endlich seinen Nachmittagskaffee einzunehmen. Da die beiden Männer sicherlich keinen Wert auf ihre Gesellschaft legten, setzte sich Grazia auf den Balkon. Sie bemerkte kaum, wie Adele eine Karaffe mit Wasser brachte, ein Kristallglas füllte und es ihr in die Hand drückte. Ihre Gedanken kehrten zur
Insel zurück, die ihr jetzt verwehrt war. Zurück zu dem geheimnisvollen Mann. Nie würde sie erfahren, wer er gewesen war – wenn er wahrhaftig existiert hatte.
    Als sie das Glas abstellte, bemerkte sie, dass es noch bis zum Rand gefüllt war. Aber sie hatte davon getrunken. Sie war sich sicher, es fast leer getrunken zu haben.

2

    E r hatte mit ihr etwas getan, das war ihr jetzt klar. Grazia setzte sich auf und entzündete die Kerze auf dem Nachttisch. Mitternacht. Seit Stunden lag sie im Bett, wälzte sich von einer Seite auf die andere und grübelte darüber nach, was es mit dem Wasser auf sich hatte. Es musste mit dem Mann zu tun haben. Irgendetwas hatte er bewirkt, als er sie dazu gebracht hatte, Unmengen von Wasser zu schlucken. Durch einen Kuss. Sie berührte ihre Lippen, versuchte nachzufühlen, wie es gewesen war. Anders als bei ihrem ersten und einzigen Kuss mit Friedrich, ganz anders – selbst wenn nicht das Wasser durch sie hindurchgeflossen wäre. Allein bei dem Gedanken daran fühlte sich ihr Inneres kühl an, als schlucke sie es wieder. Wenn sie die Lider schloss, sah sie den Fremden sich über sie beugen. Nach ihr greifen. Dann wollte sie zurückzucken und doch auch nicht. Seine kalte Haut anfassen, um sie zu wärmen. Seine Finger ergreifen, die sich hilflos an den Steg geklammert hatten.
    Aber das, was er in ihr bewirkt hatte, erschreckte sie. Hatte sie sich auch nicht getäuscht? Sie holte den Porzellanbecher
von der Frisierkommode und schlüpfte wieder unter die Decke, den Becher zwischen den Knien. Wie war es geschehen? Wie hatte sie das gemacht? Sie hatte an den Fremden gedacht und dabei irgendwie das Trinkglas aufgefüllt. Starr hielt sie den Blick auf den Becher geheftet, rief sich die Begegnung ins Gedächtnis und stellte sich vor, wie er sich füllte.
    Nichts geschah. Natürlich nicht. Das ist doch albern, dachte sie, dennoch legte sie die Hand auf den Becher und schloss die Augen. Sicher hatte sie sich getäuscht, und was sie hier versuchte, war nichts als Spielerei. Als Kind war sie auf einen Hocker gestiegen und herabgesprungen, im Glauben, mit genügend Willenskraft fliegen zu können. Das hier war genauso unsinnig, und doch – sie glaubte, dass es gelingen konnte. Sie spürte, wie ihr Atem regelmäßig ging und sie sich entspannte. An nichts versuchte sie zu denken, nur an den Moment, als das Wasser durch ihren Körper geströmt war. Ihre Finger über dem Rand des Bechers zitterten, und ein Kloß wand sich ihre Kehle hinauf. Was, wenn jetzt wirklich etwas

Weitere Kostenlose Bücher