Das Glasperlenspiel - Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften
Geschichte und mit der übrigen Geschichte immerhin in einigem Zusammenhang sei. Nein, rief sein Freund heftig, eben dies leugne er. Weltgeschichte sei ein Wettlauf in der Zeit, ein Rennen um Gewinn, um Macht, um Schätze, es komme dabei stets darauf an, wer Kraft, Glück oder Gemeinheit genug habe, den Moment nicht zu verpassen. Geistestat, Kulturtat, Kunsttat dagegen sei genau das Gegenteil, es sei jedesmal ein Ausbruch aus der Zeitknechtschaft, ein Hinüberschlüpfen des Menschen aus dem Dreck seiner Triebe und seiner Trägheit auf eine andere Ebene, ins Zeitlose, Zeitbefreite, Göttliche, ganz und gar Ungeschichtliche und Widergeschichtliche.
Knecht hörte ihm mit Vergnügen zu und reizte ihn noch zu weiteren, keineswegs witzlosen Entladungen, dann schloß er das Gespräch gelassen mit der Bemerkung: »Alle Achtung vor deiner Liebe zum Geist und seinen Taten! Nur ist die geistige Schöp
fung etwas, woran wir nicht so eigentlich teilnehmen können, wie mancher glaubt. Ein Gespräch von Plato oder ein Chorsatz von Heinrich Isaac und alles, was wir Geistestat oder Kunstwerk oder objektivierten Geist nennen, sind Endergebnisse, letzte Resultate eines Kampfes um Läuterung und Befreiung, sie sind meinetwegen, wie du es nennst, Ausbrüche aus der Zeit ins Zeitlose, und in den meisten Fällen sind jene Werke die vollkommensten, welche von dem Kampf und Ringen, das ihnen voranging, nichts mehr ahnen lassen. Es ist ein großes Glück, daß wir diese Werke haben, und wir Kastalier leben ja beinahe ganz von ihnen, wir sind ja nicht anders mehr schöpferisch als im Reproduzieren, wir leben dauernd in jener jenseitigen Sphäre der Zeit- und Kampflosigkeit, welche eben aus jenen Werken besteht und uns ohne sie nicht bekannt wäre. Und wir gehen im Vergeistigen oder, wenn du willst, im Abstrahieren noch immer weiter: wir legen in unsrem Glasperlenspiel jene Werke der Weisen und Künstler in ihre Teile auseinander, ziehen Stilregeln, Formschemata, sublimierte Deutungen aus ihnen und operieren mit diesen Abstraktionen, als wären sie Bausteine. Nun, dies alles ist sehr schön, das bestreitet dir niemand. Aber nicht jeder kann sein Leben lang ausschließlich Abstraktionen atmen, essen und trinken. Vor dem, was ein Waldzeller Repetent als seines Interesses würdig empfindet, hat die Historie den einen Vorzug: sie hat es
mit der Wirklichkeit zu tun. Abstraktionen sind entzückend, aber ich bin dafür, daß man auch Luft atmen und Brot essen muß.«
Je und je ermöglichte Knecht einen kurzen Besuch bei dem greisen Alt-Musikmeister. Der ehrwürdige Alte, dessen Kräfte jetzt sichtlich zur Neige gingen und der sich des Gebrauchs der Rede längst völlig entwöhnt hatte, verharrte in seinem Zustand heiterer Sammlung bis zuletzt. Er war nicht krank, und sein Tod war nicht eigentlich ein Sterben, es war eine fortschreitende Entstofflichung, ein Schwinden der leiblichen Substanz und der leiblichen Funktionen, während das Leben sich immer ausschließlicher im Blick der Augen und dem leisen Strahlen des einsinkenden Greisengesichtes sammelte. Den meisten Bewohnern von Monteport war dies eine wohlbekannte und mit Ehrfurcht hingenommene Erscheinung, aber nur wenigen, wie Knecht, Ferromonte und dem jungen Petrus, war eine Art von Teilnahme an diesem Abendglanz und Ausleuchten eines reinen und selbstlosen Lebens vergönnt. Diesen wenigen, wenn sie vorbereitet und gesammelt den kleinen Raum betraten, darin der Altmeister in seinem Lehnstuhl saß, gelang der Eintritt in diesen sanften Glanz des Entwerdens, das Mitfühlen der wortlos gewordenen Vollendung, wie im Bereiche unsichtbarer Strahlen weilten sie beglückende Augenblicke in der kristallnen Sphäre dieser Seele, unirdischer Musik teilhaftig, und kehrten dann
mit geklärten und gestärkten Herzen in ihren Tag zurück wie von einem hohen Berggipfel. Es kam der Tag, an welchem Knecht die Nachricht von seinem Tode erhielt, er reiste eilig hin und fand den sanft Entschlafenen auf seinem Lager liegend, das kleine Gesicht hingeschwunden und eingesunken zu einer stillen Rune und Arabeske, einer magischen Figur, nicht mehr zu lesen und doch wie von Lächeln und vollendetem Glück erzählend. Am Grabe hat nach dem Musikmeister und Ferromonte auch Knecht gesprochen, und er sprach nicht von dem erleuchteten Weisen der Musik, nicht von dem großen Lehrer, nicht von dem gütig klugen ältesten Mitglied der obersten Behörde, er sprach nur von der Gnade seines Alters und Todes, von der unsterblichen
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