Das Glück der Familie Rougon - 1
Teil der Arbeiter von Plassans die Stadt verlassen; morgen werden die übrigen zu ihren Brüdern stoßen.« Das Wort »Brüder« sprach er mit jugendlicher Überschwenglichkeit aus. Dann wurde er immer lebhafter und fuhr mit bewegter Stimme fort: »Der Kampf wird unvermeidlich. Aber das Recht ist auf unserer Seite, wir werden siegen.«
Miette hörte Silvère zu, wobei sie vor sich hin starrte, ohne irgend etwas zu sehen. Als er schwieg, sagte sie nur:
»Schon gut!« Und nach einer Pause: »Du hattest mich darauf vorbereitet … trotzdem hoffte ich noch … Nun ist˜s also entschieden!«
Sie fanden keine anderen Worte. Der verlassene Winkel des Holzplatzes, die grüne Gasse versanken wieder in ihren schwermütigen Zauber; einzig der Mond, der auf dem Gras den Schatten der Bretterhaufen weiterbewegte, lebte noch.
Die beiden jungen Leute auf dem Grabstein saßen jetzt stumm und regungslos wie die Gestalten eines Grabmals auf dem Stein in dem bleichen Licht. Silvère hatte den Arm um Miette gelegt, und sie lehnte sich gegen seine Schulter. Sie tauschten keinen Kuß, sie hielten einander nur umschlungen, und ihre Liebe war von der rührenden Unschuld geschwisterlicher Zärtlichkeit.
Miette hatte einen großen, braunen Kapuzenmantel an, der ihr bis auf die Füße herabfiel und sie völlig einhüllte. Nur ihr Kopf und ihre Hände waren zu sehen. Noch heute tragen in der Provence1 die Frauen aus dem Volk, die Bäuerinnen und die Arbeiterinnen, diesen weiten Mantel, den man dort »Pelisse« nennt und schon seit alten Zeiten kennt. Bei ihrem Kommen hatte Miette die Kapuze zurückgeschlagen. Sie war den ganzen Tag im Freien und trug bei ihrem heißen jungen Blut niemals eine Haube. Ihr bloßer Kopf hob sich kräftig von dem mondgebleichten Gemäuer ab. Sie war noch ein Kind, aber ein Kind im Begriff, ein Weib zu werden. Sie stand in dem unbestimmten und köstlichen Alter, da in dem Backfisch das junge Weib zum Vorschein kommt. In dieser Zeit hat jedes heranwachsende Mädchen etwas von der Zartheit einer aufspringenden Knospe, eine Unbestimmtheit der Formen von unendlichem Reiz. Schon künden sich in der noch kindhaften Schmächtigkeit die vollen und wollüstigen Linien der Reife an; mit der ersten schamhaften Verlegenheit kommt das Weib zum Vorschein, noch hat sie halb den Körper eines kleinen Mädchens, und doch legt sie, ihr selber unbewußt, bereits in jeden ihrer Züge das Bekenntnis ihres Geschlechts. Für manche Mädchen ist dieses Alter unvorteilhaft; sie schießen dann plötzlich in die Höhe, werden häßlich, gelb und schwächlich wie Treibhauspflanzen. Doch bei Miette wie bei allen, die gesundes Blut haben und an der frischen Luft aufwachsen, war es eine Zeit ergreifender Anmut, die niemals wiederkehrt. Miette zählte dreizehn Jahre. Obwohl sie schon recht kräftig war, hätte man sie nicht für älter gehalten, so sehr erstrahlte ihr Gesicht zuweilen in einem hellen und kindlichen Lachen. Sie mußte übrigens schon heiratsfähig sein; infolge des Klimas und ihres harten Lebens entwickelte das Weib sich schnell in ihr. Sie war fast ebenso groß wie Silvère, mollig und bebend vor Leben. Wie ihr Freund war auch sie keine Allerweltsschönheit. Man würde sie nicht für häßlich gehalten haben, aber vielen jungen Leuten mußte sie zumindest eigenartig vorkommen. Sie hatte herrliches Haar; stark und gerade über der Stirn ansetzend, fiel es, einer aufspringenden Welle gleich, mächtig nach hinten, floß dann wie ein gekräuseltes Meer voller Strudel und Launen über Hinterkopf und Nacken, schwarz wie Tinte. Das Haar war so dicht, daß sie nichts damit anzufangen wußte. Es behinderte sie. So fest sie konnte, drehte sie es, damit es weniger Platz einnahm, zu mehreren Strängen von der Stärke eines Kinderhandgelenks zusammen, dann steckte sie es am Hinterkopf auf. Sie hatte kaum Zeit, an ihre Frisur zu denken, und trotzdem gewann dieser riesige, ohne Spiegel und in größter Eile gemachte Haarknoten unter ihren Fingern eine eindrucksvolle Anmut. Wenn man sie so sah mit ihrem lebendigen Helm, mit dieser Masse krausen Haars, das über Schläfen und Hals wie ein Tierfell hinabquoll, begriff man, wieso sie stets mit bloßem Kopf ging, unbekümmert um Regen und Frost. Unter der dunklen Linie des Haaransatzes hatte die sehr niedrige Stirn Form und goldene Farbe einer schmalen zunehmenden Mondsichel. Die großen vorquellenden Augen, die breitflüglige, kurze Stupsnase, die allzu vollen und roten Lippen wären, einzeln
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