DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL: Roman (German Edition)
nicht ihrem Schicksal, sondern auf sonderbare Weise ihr galt. Bereits bei ihrer ersten Begegnung hatte sie diesen Ausdruck in seinen Augen wahrgenommen. Als würde er sie kennen. Als würde er mehr sehen, als da war. Es überraschte sie, dass ihr dieser Umstand nicht unangenehm war, auch wenn sie sicher war, dass sie sich nicht kannten, dass sie sich nie zuvor begegnet waren.
Die Eingangstür öffnete sich. Eine unnatürlich schlanke Frau in einem roten Mantel eilte herein und öffnete ihr Portemonnaie, noch bevor sie die Bestellung aufgegeben hatte. Sie schien es äußerst eilig zu haben.
Lächelnd schaute Simon zu der Frau hinüber. "Das dürfte man wohl ein Paradebeispiel für einen typischen Morgenmenschen nennen, oder?"
Nita zuckte zusammen. Morgenmensch. Nie zuvor hatte sie diesen Ausdruck von jemand anderem gehört.
"Können Sie das bitte wiederholen?", fragte sie.
Er lächelte wissend. "Teilen Sie denn nicht meine Meinung, dass diese Frau ein typischer Morgenmensch ist?"
"Doch, doch, aber -"
Sein Lächeln wich einem Gesichtsausdruck, der langsam ernster wurde. Er schien sich auf etwas vorzubereiten, nach Worten zu suchen.
"Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll", sagte er schließlich. "Aber ich kann Sie einfach nicht im Unklaren darüber lassen, wie ich in Wirklichkeit auf Sie aufmerksam geworden bin, Nita. Warum ich nach Ihnen gesucht habe und nach keinem anderen Angehörigen."
"Ich verstehe nicht."
"Das können Sie auch nicht. Das Dumme ist, dass ich Ihnen nicht zeigen kann, was ich meine. Es wird reichen müssen, dass ich es Ihnen erzähle."
Seine Worte, vor allem aber die Art, wie er sie aussprach, irritierten sie.
"Was meinen Sie?"
Er beugte sich ein kleines Stück über den Tisch. "Sie schreiben Ihrem Mann Briefe, nicht wahr?"
Sie spürte das Blut in ihren Kopf schießen. "Woher wissen Sie davon?"
"Ich … es ist sehr schwer zu erklären, und ich nehme an, dass Sie es lächerlich finden werden. Aber alles, was ich Ihnen erzähle, ist wirklich so geschehen."
"Erwarten Sie von mir, dass ich verstehe, was Sie meinen?"
"Ich habe ein Buch auf dem Nachtschrank meiner Frau gefunden", antwortete er. "Und die Seite, in der das Lesezeichen steckte, die Seite, die sie am Abend vor ihrem Tod gelesen hat, zeigte am Tag meiner Rückkehr in unser gemeinsames Haus einen sehr seltsamen Inhalt."
Sie schluckte. Sie hatte weder eine Ahnung, worauf er hinauswollte, noch eine Vorstellung davon, wie sie darauf reagieren sollte.
"Zuerst dachte ich, dass es der Inhalt des Romans sei", fuhr er fort. "Aber nach ein paar Tagen habe ich dann gemerkt, dass sich der Inhalt auf dieser Seite täglich ändert. Und dass es nicht der Inhalt des Romans, sondern ein Brief ist."
"Ein Brief?"
"Anfangs habe ich es ebenfalls nicht glauben wollen. Es war einfach absurd. Aber mit der Zeit habe ich gemerkt, dass es zwischen der Seite 139 und dem Verfasser der Briefe tatsächlich eine Verbindung gab."
Schweigend schaute sie ihn an. Die Worte fehlten, selbst die Gedanken.
"Eine Verbindung zu Ihnen , Nita."
Sie versuchte, ihm zu antworten, doch die Emotionen wollten sich nicht in Einklang bringen lassen. Was bezweckte er mit dieser verrückten Geschichte? Und warum wählte er eine geschmacklose Lüge wie diese, um ihr Vertrauen zu gewinnen? Rechnete er tatsächlich damit, dass sie ihm glaubte?
Er schien ihren Unmut zu bemerken.
"Ich habe alles gelesen", sagte er. "Jeden Brief. Ihre Gedanken darüber, Herrn Volkmann zu bitten, Sie täglich eine Stunde länger zu beschäftigen, weil Ihnen der Job so viel Ablenkung bietet. Der Brief, in dem Sie Patrick schrieben, dass Sie alle gemeinsamen Bilder auf den Dachboden verbannt haben, nur um sie am nächsten Tag wieder zurückzuholen. Die Anekdoten über die Tageszeitmenschen im Park. Ihr Versuch, sich mit einem Date auf andere Gedanken zu bringen."
Seine Worte schienen wie ein Band unzusammenhängender Buchstaben an ihr vorüberzuziehen.
"Ich weiß, dass es eigentlich unmöglich ist", sagte er. "Aber wie sonst könnte ich von all diesen Dingen wissen?"
Endlich gelang es ihr, ihren Verstand wieder unter Kontrolle zu bekommen. Wütend sprang sie auf.
"Das ist das mit Abstand Krankhafteste und Geschmackloseste, das ich je in meinem Leben gehört habe." Sie griff nach ihrem Mantel. "Ich habe mich auf dieses Treffen eingelassen, weil ich dachte, wir könnten uns für ein paar Stunden dabei helfen, unseren Verlust besser zu verarbeiten. Und jetzt stellt sich heraus, dass Sie ein
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