DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL: Roman (German Edition)
die schmale Seitengasse und auf das Display seines Handys. Keine Spur von ihr. Kein Lebenszeichen.
Und wenn er sie zu sehr gedrängt hatte? Er hätte ihr die Chance geben sollen, in Ruhe auf seinen Brief zu antworten, bevor er ihr den Ort für ein Treffen vorschlägt. Warum nur hatte er es für besser gehalten, ihr mit einem konkreten Vorschlag die Entscheidung zu erleichtern?
Wieder schaute er auf die Uhr. Seit beinahe zwei Stunden saß er mittlerweile an dem kleinen Dreieckstisch am Fenster und dachte darüber nach, mit welchen Worten er sie begrüßen sollte. Jetzt gab er es auf. Er hatte es wieder mal versaut, seiner Ungeduld die Macht gegeben, ihm eine so wichtige Chance zu vermasseln.
Das Aufblinken seines Handys riss ihn aus der Lethargie. Marie.
"Ist es wichtig?", brummte er genervt ins Telefon.
"Kommt drauf an, wie man es sieht", antwortete Marie irritiert. "Ich sitze gerade vor einer Schüssel mit Teig und bereite Muffins für Timmys Schulpicknick vor."
"Tut mir leid, Schwesterchen, aber ich fürchte, ich bin gerade kein besonders liebenswerter Gesprächspartner."
"Warst du das denn je?"
"Ich muss Schluss machen."
Ohne eine Antwort abzuwarten, beendete er das Gespräch, nahm einen großen Schluck von seinem Milchkaffee und winkte die Kellnerin herbei.
*
Die angesammelte Wut entlud er mit einem kräftigen Türknallen. Er war nicht wütend, weil sie ihn versetzt hatte. Wirklich unerträglich war allein seine Gedankenlosigkeit. Wie konnte er davon ausgehen, dass sie ihm sein forsches Vorgehen nachsehen würde? Dass sie kommen würde, obwohl er ihr keine wirkliche Chance gegeben hatte, im Vorfeld auf seinen Vorschlag zu reagieren?
Er war ungeduldig geworden, hatte sich durch das Ansetzen eines Termins erhofft, ihr endlich die letzten Zweifel zu nehmen. Vermutlich hielt sie ihn nun erst recht für einen Irren. Für einen verzweifelten Witwer, dem jeder Weg recht war, aus seiner Einsamkeit zu entkommen. Der sich der Macht geschickter Worte bediente, um sie (und gewissermaßen auch sich selbst) von etwas zu überzeugen, das letztendlich doch zum Scheitern verurteilt war.
Mutlos ließ er sich auf den Rattansessel neben der Garderobe fallen. Er streckte seine Füße von sich und verharrte regungslos in dieser Position. Vielleicht war es tatsächlich an der Zeit, seine Anstrengungen in eine neue Richtung zu lenken. Sich in die Arbeit zu stürzen oder einen Kurztrip in eine Stadt zu starten, mit der ihn keine Erinnerungen verbanden. Einfach weg. Weg von allem.
So sehr er es sich auch wünschte, er würde den Kontakt zu Nita nicht nahtlos weiterführen können. Auch wenn er ihre Reaktion - oder besser gesagt: ihre ausgebliebene Reaktion - nachvollziehen konnte, war er es leid, sich Hoffnungen hinzugeben, die doch immer wieder enttäuscht wurden. Ein erneuter Brief an sie würde sie letztendlich nur umso mehr davon überzeugen, dass er ihr einen Stellenwert eingeräumt hatte, den auszufüllen sie nicht bereit war.
Er wusste selbst nicht genau, was er von ihr erwartet hatte. Noch weniger war ihm jedoch klar, was er von sich selbst erwartete. Noch immer schlief er mit dem Gedanken an Emma ein, und doch hatte Nita eine Position in seinem Leben eingenommen. Sie ermöglichte es ihm, wenigstens für eine Weile den immer wiederkehrenden Gedanken, die ihn seit Emmas Tod heimsuchten, zu entkommen. Aber was genau hatte er sich durch einen engeren Kontakt zu ihr erhofft? Eine neue Chance? Ein neues Leben?
Das Läuten an der Tür unterbrach seine Gedanken. So sehr er seine Schwester liebte, er war nicht in der Verfassung, jetzt mit ihr über den Grund für sein plötzliches Beenden des Telefonats zu sprechen. Sie machte sich Sorgen um ihn. Noch immer. Aber selbst dieser Umstand konnte ihm kein Gefühl der Nachsicht abverlangen. Er wollte nicht reden. Nicht jetzt. Und auch nicht in den nächsten Tagen.
Der Gedanke an die nicht gerade kurze Fahrzeit, die sie auf sich genommen hatte, ließ ihn dennoch aufstehen. Der Ansatz eines schlechten Gewissens überkam ihn. Er war wirklich ausgesprochen unhöflich am Telefon gewesen.
"Es tut mir leid", sagte er, während er die Tür öffnete.
"Mir auch", antwortete sie leise.
Nita.
Er hatte sich öfters ausgemalt, wie sie vor seiner Tür stand oder er vor ihrer, während sie ihm öffnete. Dieser Moment jedoch übertraf all seine Vorstellungen. Der Blick, dem sie ihm zuwarf, sagte alles und doch gar nichts. Er erkannte das Bedauern über ihr Verhalten, gleichzeitig aber
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