Das Glück in glücksfernen Zeiten
wenn du es auch tun würdest, würden sie vielleicht auch dich hierbehalten, und das wäre doch nicht schlecht, oder?
Wir lachen und spintisieren noch ein bißchen darüber, was passieren würde, wenn wir jetzt aufstehen und kurz nacheinander, wie bei einem sportlichen Wettbewerb, unser Essen gegen die Wand schmeißen würden. Immerhin gelingt uns dadurch eine Distanz zur unmittelbaren Unerträglichkeit. Wenn ich mich nicht täusche, ist Traudel ein bißchen beglückt, weil wir durch unsere Alberei einen Zipfel von unserer früheren Unbeschwertheit wiedererlangen. Nach dem Mittagessen machen wir einen kleinen Spaziergang in die Umgebung. Ich sehe viele Mitpatienten, deren Leiden ich Traudel erkläre. Für einen Kaffee reicht unsere Zeit nicht mehr, weil ich um 16.00 Uhr eine Therapiestunde habe. Traudel geht noch einmal mit mir ins Zimmer. Aus Verlegenheit zeige ich ihr die Tabletten, die ich täglich einnehme. Traudel faßt mich an und drängt sich an mich heran. Ich habe, glaube ich, noch niemals das Angebot einer Frau zurückgewiesen.Traudel neigt nachmittags nicht zu erotischen Handlungen, aber sie nimmt an, daß ich sexuell ausgehungert bin, womit sie recht hat. Als sie den Schlüssel meines Zimmers umdreht, ist klar, daß sie mir einen quasi ehemäßigen Samariterdienst erweisen will. Aber meine Verletztheit sträubt sich dagegen, sich so schnell niederlieben zu lassen, schon gar nicht zum Sonderpreis einer fixen Besuchssexualität. Als Folge meiner Klinik-Einweisung hat sich zwischen Traudel und mir eine Art Schmerzwaage eingependelt. Jeder legt in seine Waagschale den Schmerz, sich am Lebensglück des anderen vergangen zu haben. Wessen Vergehen wiegt heute schwerer? Derzeit glaube ich, Traudel hat ihre Schale überladen. Ich sollte Traudel nicht zu sehr mit meiner Erkrankung ängstigen. Ich knöpfe Traudel die Bluse, die sie sich schon geöffnet hatte, wieder zu. Daraufhin nimmt sie ihre Sachen an sich. Ich will sie runterbringen ins Foyer, aber sie sagt, daß sie schon alleine hinausfindet, und verläßt sichtbar gekränkt das Zimmer.
In der Therapiestunde kann ich nicht mit mir einig werden, ob ich über den mißglückten Abschied von Traudel sprechen soll oder nicht. Weil ich zu lange schweige, fordert mich Dr. Treukirch auf, über Melancholie zu sprechen, was mir schwerfällt.
Ich bin so sehr mit meiner Trauer verwachsen, sage ich, daß ich nicht gewohnt bin, über diese Verbrüderung zu sprechen.
Jetzt schweigt Dr. Treukirch lange.
Ich wundere mich, sage ich, warum meine Melancholie und der Rest der Welt so gut zueinander passen. Anders gesagt, ich staune darüber, daß die meisten Menschen meine Melancholie angemessen finden. Die Melancholie der Verhältnisse ist doch nicht auf die Bestätigung meiner kleinen Seele angewiesen.
Danach entsteht eine noch längere Pause.
Nach einigen Minuten belastet mich das Gefühl, ich sei an der Pause schuld, was gewiß nicht zutrifft. Dennoch erzähle ich eine törichte Geschichte, die ich als Kind erfunden habe. Eines Tages kam ich vom Einkaufen nach Hause und habe meiner Mutter gegenüber behauptet, daß ich in der Metzgerei diffamiert worden sei. Eine Verkäuferin hat mich einen kleinen Wurstzipfel genannt, sagte ich, und dann darüber gelacht. Ich fühlte mich verhöhnt und habe so schnell wie möglich die Metzgerei verlassen. Meine Mutter war erbost und kündigte an, sie werde die Verkäuferin zurechtweisen. Ich hatte eine Weile zu tun, sie von ihrer Absicht abzubringen. Ich verglich die Diskriminierung mit den Schmähungen, die ich aus der Schule kannte. Dort nannte man mich Schafsauge oder Holzwurm oder Spreißel. Auch ich beteiligte mich an der Schmähung der anderen Schüler, sagte ich damals zu meiner Mutter und jetzt zu meinem Therapeuten, und wir fanden es damals nicht sonderbar, daß die gegenseitig sich Schmähenden ein paar Minuten später wieder friedlich beisammensaßen und miteinander spielten. So ist es auch mit der Wurstverkäuferin! sagte ich altklug zu meiner verblüfften Mutter. Sie stehen den ganzen Tag in ihrer schrecklichen Metzgerei, und sie müßten zuweilen ihre Kunden verunglimpfen, damit sie wenigstens ein bißchen Unterhaltung hätten. Meine Mutter fand mich erstaunlich reif und weitsichtig und ließ daraufhin von einer Zurechtweisung der Verkäuferin ab. Endgültig erledigt war die Geschichte, als ich ein paar Tage später erklärte, daß die Verkäuferin ihre Schmähung nicht wiederholte und auch nicht über mich gelacht
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