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Das Glück in glücksfernen Zeiten

Titel: Das Glück in glücksfernen Zeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Sessel und legt ihre Stöckelschuhe ab. Das Kind sagt fortlaufend Mama-Mama-Mama-Mama. Die Frau sagt, die Mama ist hier, das Kind sagt weiter Mama-Mama-Mama-Mama. Die Frau holt aus ihrer Handtasche einen Transistor heraus und schaltet Popmusik ein.Das Kind sagt in die Popmusik hinein Mama-Mama-Mama-Mama. Die Frau holt aus ihrer Handtasche einen Kinderhandfeger und gibt ihn dem Kind. Das Kind beginnt zu fegen und sagt Mama-Mama-Mama-Mama.
    Gehen wir mal kurz auf das Zimmer, sage ich.
    Traudel nickt.
    Die Besichtigung des Zimmers fällt kurz und zunächst wortlos aus. Allerdings gibt es hier nicht viel zu besichtigen. Ein schlichtes Holzbett, ein Tisch mit zwei Stühlen, ein Waschbecken, ein Einbauschrank. Ich ordne die von Traudel mitgebrachten Sachen in die oberen Fächer des Schranks ein.
    Soll ich die schmutzige Wäsche mitnehmen, fragt Traudel.
    Es gibt hier einen hauseigenen Waschdienst, sage ich.
    Es macht mir nichts aus, sagt Traudel und beginnt, meine schmutzige Wäsche in ihre Tasche zu stecken. Kurz darauf schluchzt sie erneut, umarmt mich und bittet um Verzeihung.
    Es ist so schlimm geworden mit dir, sagt sie, ich wußte mir nicht mehr zu helfen.
    Was ist schlimm geworden? frage ich.
    Schon die Hose auf dem Balkon hat mich geschafft, sagt Traudel; als du einen Bekannten als Mitarbeiter deiner Schule vorgestellt hast; dann die Scheibe Brot! Ich war fix und fertig.
    Traudel schluchzt.
    Fühlst du dich jetzt besser?
    Ja, sage ich.
    Wir verlassen das Zimmer und gehen in Richtung Klinik-Casino. Im Fahrstuhl fällt kein Wort. Ich überlege tatsächlich, ob ich trotz ihres Verrats zu Traudel zurückkehren soll. Ich muß anerkennen, daß ich sie überfordert habe. Ich habe ihr die Begegnung mit einem Menschen zugemutet, der inseiner inneren Verrückung unerreichbar geworden war. Die Angst, die aus einer solchen Begegnung hervorgeht, ist genauso menschlich wie die Verrückung selber. Deswegen steht es mir nicht zu, Traudel wegen ihrer Angst bestrafen zu wollen. Man kann Angst nicht verurteilen. Sie ist kein Vergehen. Ich bin begeistert, wie tadellos meine Denkmaschine wieder arbeitet. Ich erkenne darin ein Zeichen für die Rückkehr meiner Gesundheit. Trotz meiner Einsicht behält das Gefühl meiner Verletztheit die Oberhand. Das Casino ist wie fast immer überfüllt. Wir reihen uns in die Schlange vor der Essensausgabe ein. Ich weiß bis kurz vor der Luke nicht, für welches Mittagessen ich mich entscheiden soll. Dann stoßen wir fast gleichzeitig die Worte Forelle blau mit Salzkartoffeln aus. Über die Beinahe-Gleichzeitigkeit müssen wir ein bißchen lachen und empfinden Verlegenheit über ihren dürftigen Grund. Mit den Tellern in der Hand warten wir, bis zwei Plätze frei werden. Ich setze mich nicht gerne an einen Tisch, an dem bereits andere Menschen essen, aber wir haben keine Wahl. Die Leute an unserem Tisch (ein Patient und zwei Besucher) reden und lachen laut. Viele Patienten essen schnell, um wieder verschwinden zu können. Wer mit essen fertig ist, muß seinen Teller selbst zur sogenannten Geschirrückgabe bringen. Dadurch entsteht ein fast ununterbrochener Küchenlärm. Das dauernde Herausziehen der Stühle unter den Tischen und das Zurückschieben der Stühle unter die Tische verursacht ein noch stärkeres Geräusch. Wir machen uns halb stumm über die Forelle her und schauen uns wartend an. Einer der Besucher läßt seine halb aufgegessene Mahlzeit am Tisch zurück. Die schnell erkaltenden, glasig gewordenen Kartoffeln bilden zusammen eine Art Mondlandschaft. Die losgelösten Forellenhautstücke glänzen wie ein kleines Silbermoor. Meine Aufmerksamkeit für das stehengebliebene Essen ist kein gutes Zeichen, aber ich weiß mir nicht anderszu helfen. Die Gabel, die auf dem Tellerrand aufliegt, fordert zur sofortigen Flucht auf. Die Flucht wäre sinnlos, weil ohne nachvollziehbaren Grund. Trotzdem stelle ich mir vor, ich würde fliehen und unterwegs von zwei Klinik-Angestellten wieder aufgegriffen. Sie würden mich fragen, warum ich geflohen bin, und ich würde antworten: Wegen der Gabel auf dem Tellerrand. Darüber muß ich jetzt ein wenig kichern.
    Sagst du mir, warum du lachst? fragt Traudel.
    Am liebsten würde ich meine Forelle samt Kartoffeln an die Wand schmeißen, sage ich.
    Traudel flüstert zurück: Ich auch.
    Warum tun wir es nicht? frage ich.
    Wenn du es tun würdest, sagt Traudel, würden sie dich für immer hierbehalten, und das kannst nicht einmal du wollen.
    Das stimmt, sage ich, aber

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