Das Glück wartet in Virgin River
besser drauf als an anderen, sagt Will. Aber es sei schon gefährlich, ihn nur zu striegeln. Wenn Will es schafft, ihm das Halfter anzulegen, wird er unruhig, und wenn Ginny versucht, ihn zu streicheln, scheut er. Sie hat Angst, abgeworfen zu werden, falls es ihnen irgendwann einmal gelingen sollte, ihm den Sattel aufzulegen.“
„Davor muss sie auch Angst haben“, sagte Clay. „Sieh ihn dir an. Er hat ein ernstes Problem, zu vertrauen.“ Clay wandte sich Nate zu. „Ich will versuchen, ihn einzufangen und in die Hengstbox zu bringen. Dann werde ich ihn füttern.“
„Soll ich dir helfen?“
„Nein, danke“, antwortete Clay lächelnd. „Aber ich werde damit warten, bis er brav und müde ist.“
Nate klopfte ihm auf den Rücken und ging zurück in sein Büro.
Als Clay später wieder nach dem Pferd sah, scheute es zwar immer noch, aber er hatte schon Schlimmeres erlebt. Er wollte gar nicht erst versuchen, ihn zu striegeln, auch wenn Streak nass geschwitzt war. Für heute sollte es reichen, ihn zu akklimatisieren. Abgesehen davon war es bereits eine gewaltige Leistung, ihn auch nur einzufangen. Schweigend kommunizierten sie miteinander, wobei Clay jedoch nur so viel verstand, dass er es mit einem nervösen Hengstfohlen zu tun hatte.
Nachdem Streak gefüttert und gut versorgt allein in seiner Box stand, wandte Clay sich anderen Dingen zu. Er hatte noch keine Möglichkeit gehabt, sich mit Nathaniels Krankenakten zubeschäftigen, die im Computer gespeichert waren, und wenn er bei der Tierpflege und im Stallmanagement einen Beitrag leisten wollte, sollte er sich auf Stand bringen. Annie lud ihn wieder zum Abendessen ein, aber Clay lehnte ab. Er wollte keinen Präzedenzfall schaffen und nicht jede freie Minute mit den beiden verbringen. Auch wenn er und Nathaniel Freunde waren, so war er doch auch sein Boss. Deshalb machte Clay sich in seinem Zimmer ein paar Sandwiches und stellte eine Aufgabenliste zusammen, die er in seiner ersten Woche abarbeiten wollte.
Als er damit fertig war, holte er sich ein Buch aus der Reisetasche. Clay interessierte sich für Geowissenschaften wie Geografie, Geologie, Meteorologie und Ökologie. Auch die Astronomie faszinierte ihn, und in seinem Pferdeanhänger lag ein hochmodernes Teleskop, das er wegen des Platzmangels in seiner momentanen Unterkunft gar nicht erst ausgepackt hatte. Als er schließlich auf dem Bett lag und ihm das Buch aus den Händen glitt, wanderten seine müden Gedanken zu der langbeinigen Blondine, mit der er einmal verheiratet gewesen war, und er fragte sich, ob es ihr gut ging oder ob sie nun, da er nicht mehr für sie da war, von Einsamkeit und Sehnsucht geplagt wurde.
Und ohne es sich recht erklären zu können, dachte er auf einmal über das kleine Hopi-Mädchen nach, das sich in die kranke Stute verliebt hatte… Darüber schlief er ein.
Er hatte noch nicht lange geschlafen, als seine angenehmen Männerträume in eine bedrückende Dunkelheit überwechselten. Ob er sich im Schlaf tatsächlich bewegte, wusste er nicht, aber in seinem Traum schlug er um sich. Aus einem tiefen Loch heraus sah er nach oben in einen schwarzen Himmel ohne Sterne, und sein ganzes Wesen war von Panik erfüllt. Sein Herz raste vor Angst. Es gab keinen Ausweg. Er versuchte erfolglos, sich mit den Händen an der Wand des Lochs festzukrallen. Dann wollte er um Hilfe rufen, aber er brachte keinen Ton heraus. Dieser Albtraum schien einfach kein Ende zu nehmen.
Als Clay schließlich die Augen aufriss, keuchte er und war in Schweiß gebadet. Seine Nachttischlampe brannte noch. Die Dunkelheit hatte nur in seinem Traum existiert. Er musste sichkonzentrieren, um seinen Puls zu verlangsamen und seinen Atem zu beruhigen. Was zum Teufel war das? fragte er sich. Seit Ewigkeiten hatte er keinen Albtraum mehr gehabt, und an das letzte Mal konnte er sich schon gar nicht mehr erinnern. Er nahm an, dass es zwölf Jahre her sein musste. Damals, als er mit Anfang zwanzig keinen Halt im Leben gehabt hatte und außerstande gewesen war, sich eine Zukunft vorzustellen.
Clay meditierte kurz. Er brauchte nur wenige Sekunden, um Körper und Geist zur Ruhe zu bringen. Ein tiefer, reinigender Atemzug. Und dann hörte er einen dumpfen Schlag aus dem Stall.
Er stand auf, zog sich seine Stiefel an und ging nachsehen. Als er den Gang zwischen den Boxen abschritt, schien alles unter Kontrolle zu sein. Aber dann hörte er wieder einen Schlag, diesmal begleitet von einem leisen Wiehern.
Es war Streak.
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