Das Gold der Lagune: Historischer Roman (German Edition)
seichten Wasser hervor und streckten ihre Hälse der Sonne entgegen, während das Grün ihrer Blätter wie Fächer wirkte. Kleine Kanäle schlängelten sich zwischen ihnen hindurch, einem Labyrinth gleich, und der Wind kräuselte leicht die Wasseroberfläche. Ein weißes Entenpaar landete auf einem der schmalen Wasserwege und zog gemächlich seine Kreise.
Die Einzigartigkeit der Farben und ihrer Schattierungen auf der bis zum Horizont reichenden Lagune drangen Cristin bis ins Innerste. Und über allem lag ein goldener Schimmer, als hätte Gott höchstselbst einen Schleier über diesen Küstenfleck gelegt. Goldene Punkte tanzten auf dem Wasser ebenso wie auf den Gräsern und Halmen, ja selbst das Ufer schien in dieses Licht getaucht zu sein.
Da vernahm die Schwangere eine Stimme aus der Erinnerung in ihren Ohren: »Ach, liebste Cristin, könnte ich das goldene Venedig doch nur malen, um es für immer festzuhalten.«
Jadwigas Worte hallten in ihr nach. In diesem Moment verstand Cristin, was vorher für sie nur ein begeisterter Ausruf der verstorbenen Freundin gewesen war. Diese Stadt besitzt einen eigenen Zauber, waren einst Jadwigas Worte gewesen. Wie recht sie gehabt hatte! Sie konnte sich nicht sattsehen an der zauberhaften Atmosphäre der Lagune, und als die Sonne sich wieder zwischen den Wolken verbarg, fühlte sie Bedauern in sich aufsteigen. Könnte ich doch nur diese Farben, dieses Gold einfangen.
Plötzlich sprang sie auf. Das könnte es sein! »Baldo, oh mein Gott! Ich glaube, ich habe eine Ahnung, was …« Ihre Wangen glühten vor Freude. »Wenn es mir gelingen sollte, diese Farben, diese Lagune in das Brautgewand hineinzuarbeiten, dann … dann könnte ich Signora Montebello vielleicht …«
Einen Augenblick lang starrte ihr Mann sie nur an und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Ich weiß zwar nicht, wie du das anstellen willst, aber wenn es überhaupt jemandem gelingen sollte, dann dir.«
Sie hielten einander umfangen, bis Cristin sich von ihm löste.
»Ist es dir nicht auch aufgefallen, wie stolz die Menschen hier auf ihre Heimat sind? Wie sehr sie ihre Stadt verehren? So sehr, dass man meinen könnte, sie müssten sich ähnlich wie Venedig schmücken?«
»Ja!« Baldo umfasste sie und wirbelte sie im Kreis herum. »Du hast ja so was von recht! Mein Gott, du wirst diese hochnäsige Person entzücken!«
Cristin lachte. »Gut möglich. Lass uns zurückgehen. Auf mich wartet viel Arbeit.«
Doch kaum dass sie Baldo von ihrem Plan berichtet hatte und die erste überschäumende Freude einer stillen Zufriedenheit gewichen war, biss sie sich auf die Unterlippe. Ja, wäre sie jetzt zu Hause in Hamburg in ihrer Spinnerei, hätte sie sich mit Minna und dem Gesellen beraten können. Darüber, welches Material sie am besten für den Brautstaat verwendete, welche Farben dem Bild der Lagune entsprachen oder ihm zumindest sehr nahe kamen. Und natürlich, wo sie diese farbigen Garne herbekommen konnte, denn nicht jeder Färber hatte eine derart große Palette anzubieten. Aber hier, im fernen Italien, mit nichts als einer vagen Idee und einer Handspindel ausgerüstet, gestaltete sich das Anfertigen von Mustern eher schwierig.
Gewiss, nirgends sonst konnte sie feineres Garn kaufen als in Venedig, doch die fünf Dukaten, die sie von Enrico de Gaspanioso für die zwei Werkstücke erhalten hatte, waren sicher nicht genug. Also blieb ihr nur, eine Zeichnung anzufertigen. Im Geiste ging sie ihre Habe durch. In ihrem Gepäck befanden sich zwei Pergamentbögen, Federkiel und ein Tintenfässchen. Baldo hatte sie damals gefragt, wozu sie die Sachen benötigte, aber sie hatte sich nicht beirren lassen und die Schreibutensilien für alle Fälle eingesteckt. Mühsam riss sie sich von ihren Überlegungen los, und sie näherten sich mit raschen Schritten ihren Begleitern.
Cristin lächelte, während Baldo den anderen atemlos von ihrer Idee berichtete, doch in Gedanken stellte sie eine Liste der Farben zusammen, die sie für die Zeichnungen unbedingt benötigte. Zinnober, Grünspan, Ocker, Indigo und Knochenweiß, und mit etwas Glück bekam sie auch Azurit. Außerdem musste sie verschiedene Pinsel sowie goldene Tinte besorgen.
Obwohl – diese Töne würden nicht annähernd die wahren Farben der Lagune wiedergeben … Egal, sie musste eben ihr Bestes versuchen. Sie blickte an den Männern vorbei auf den Weg, der sie zurück zu dem Anlegeplatz der Gondel führte. Inzwischen war es später Nachmittag, und die Sonne
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