Das Gold der Lagune: Historischer Roman (German Edition)
hübschen Fachwerkhäuser, die der zunehmende Mond erhellte. Unzählige Möglichkeiten, was Elisabeth fehlen mochte, schossen ihr durch den Kopf. In der Kammer war es stickig, doch sie wagte nicht, das Fenster zu öffnen. In Gedanken ging sie den Beutel mit Kräutern und Salben durch, die sie mitgenommen hatte. Zur Behandlung eines aufgeschürften Schienbeins oder Schmerzen geringerer Art waren sie allemal ausreichend, und auch Material zum Vernähen von offenen Wunden fand sich in dem Beutel. Doch damit erschöpften sich auch ihre Möglichkeiten.
Cristin wendete sich zu der Kleinen um. Elisabeth schien tief und fest zu schlafen.
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A m nächsten Morgen weinte Elisabeth, als Cristin ihr einen Becher mit Milch an den Mund hielt. Im hellen Tageslicht konnte sie ihr geschwollenes Zahnfleisch erkennen und atmete auf. Ein durchbrechender Backenzahn war also der Grund für das Unwohlsein. Sie schloss ihre Tochter in die Arme und machte sich mit ihr auf dem Weg zur Gaststube des Ochsen .
Die Wächter nahmen bereits ein reichhaltiges Frühmahl zu sich, bevor sie zu ihrem nächsten Ziel, der Stadt Magathaburg, aufbrechen würden. Die alte Messe- und Handelsstadt an der Elbe lag im Osten des Reiches, etwa zehn Meilen von Brunswick entfernt. Bis nach Krakow würden sie von dort aus noch fünf oder sechs Tage unterwegs sein, aber das hing von der Beschaffenheit der Straßen ab, die zur polnischen Hauptstadt im Süden des Landes hinunterführten.
Während die Kalesche an zahlreichen Dörfern und Bauernhöfen vorbei durch die flache, nur von wenigen Wäldchen unterbrochene Bördelandschaft rollte, wanderten Cristins Gedanken zu Baldo. Es wäre so schön, wenn er einen zuverlässigen Mann für die Werkstatt finden könnte, wünschte sie sich, als sie an einem Kloster etwas abseits der Straße vorüberfuhren.
Mit der Hand strich sie über die große Truhe, die zu ihren Füßen stand. In der schmucklosen Holzkiste befanden sich der Stoff für das Gewand der Zisterzienserin in Herwardehude, ihr Stickrahmen sowie die nötigen Garne und Werkzeuge. Cristin hoffte, im Laufe der nächsten Wochen auf dem Wawel genügend Zeit zu finden, um es fertigstellen zu können. Ende des Jahres erwartete die Oberin des Klosters Frauenthal bereits das gefertigte Gewand.
Viele Hamburger Bürger bedachten die Zisterzienserinnen in ihrem Testament, hieß es. Auch hatte sie gehört, dass dem Konvent ausgedehnte Ländereien rund um die Alster gehörten. Baldo zeigte für dieses Gebaren keinerlei Verständnis, für ihn grenzten derlei Geschäfte, die der Geistlichkeit mehr und mehr Reichtum bescherten, an Gotteslästerung. Baldo hatte noch nie ein Hehl aus seiner Abneigung gegen den Klerus gemacht, genau wie Piet, den die Geistlichkeit wie alle Narren als Verkörperung von Gotteslästerung, Tod und Teufel betrachtete.
Ein Lächeln umspielte Cristins Lippen. Piet. In wenigen Tagen würde sie ihn wiedersehen, den geliebten Bruder, mit dem sie schon lange eine unsichtbare Verbindung verband. Erst im vorletzten Jahr hatten sie einander wiedergefunden. Bis dahin hatte sie nicht einmal von der Existenz ihres Zwillingsbruders geahnt.
Elisabeth kuschelte sich an sie, und Cristin zog den kleinen Kinderkörper näher an sich heran. Die Kleine hob den Kopf und lächelte träge. Kurz darauf war sie eingenickt. Die lange Reise, die fremden Männer, die sie schützten, der quälende Zahn, all dies jagte ihr offenbar Angst ein. Ein ums andere Mal hatte sie an den Händen ihrer Mutter gezerrt und nach Baldo gefragt, sodass Cristin ihre liebe Not hatte, das Mädchen abzulenken und zu beruhigen.
Seit Baldo sie damals aus der dunklen Erde befreit hatte, waren sie nie länger als nötig voneinander getrennt gewesen. Wie selbstverständlich es für sie geworden war, ihn an ihrer Seite zu wissen, wurde Cristin nun bewusst. Sie seufzte leise, denn sie fühlte sich erschöpft und schmutzig. Das gleichförmige Geräusch der über die ungepflasterte Straße rollenden Wagenräder und das leichte Ruckeln der Kutsche versetzten sie bald in eine träumerische Stimmung. Jadwiga war gewiss überglücklich, bald ein eigenes Kind in den Armen halten zu können. Oh, sie war ja so gespannt darauf, all die Menschen, die ihr wichtig waren, wiederzutreffen. Ihr Herz schlug schneller. Besonders an Janek hatte sie in letzter Zeit viel gedacht und sich gefragt, ob er sich beim königlichen Hufschmied wohlfühlte. Die Tatsache, den Jungen bei Jaromir zu wissen, erfüllte sie mit stiller
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