Das Gold der Lagune: Historischer Roman (German Edition)
sich Baldo und Cristin aufhielten, und noch weniger, wann sie wiederkehren würden.
Während er in die kleine Stube zurückging, dachte er an seinen Sohn. Werkstatt und Haus verloren zu haben, musste furchtbar für Baldo und Cristin sein. Ob sie schon ein neues gefunden hatten? Auch wenn er es ungern vor sich selbst zugab: Er hing an dem Jungen, Baldos damaligem Verrat zum Trotz. Längst hatte Emmerik ihm verziehen. Der Gehilfe, der nun seinen Sohn ersetzte, machte seine Arbeit gut, besser als Baldo, der wohl wirklich nicht zum Henker taugte. An den Zügen seines Sohnes waren stets neben der Wut den Verbrechern gegenüber auch Ekel und Widerwillen herauszulesen gewesen.
Der Henker setzte sich auf die roh gezimmerte Holzbank, trank einen Schluck aus dem Becher mit warmem Kräuterbier und wischte sich über die Lippen. Ob sein Sohn mit Cristin Bremer eine gute Ehefrau gefunden hatte? Eine Bürgerin und ein Mann aus dem niedrigsten Stand – ob das gut ging? Die beiden konnten nur eine Friedelehe führen. Was Cristin dazu berechtigte, sich von Baldo scheiden zu lassen, sollten ihre Gefühle für ihn einmal erkalten oder ein anderer, standesgemäßerer Mann in ihr Leben treten. Doch auch Baldo konnte sich jederzeit eine andere Frau suchen, wenn ihm danach war.
Emmerik wischte die trüben Gedanken fort. Mochten die beiden bis ans Ende ihrer Tage glücklich miteinander sein. Er wünschte es seinem Sohn und der Frau, die so viel Schlimmes durchgemacht hatte, von Herzen.
35
Hamburg , vier Wochen später
S eit Tagen streifte Mirke nun schon um das neue Haus der Schimpfs in der Deichstrate herum und beobachtete, wie Cristin die neue Spinnerei im Untergeschoss bezog. Herauszubekommen, wo sie und Emmeriks Sohn wohnten, war nicht schwer gewesen. Hamburg war längst nicht so groß wie Lübeck, und die beiden waren inzwischen vielen Leuten bekannt, hauptsächlich natürlich, weil sie ihr erstes Haus durch dieses tragische Unglück verloren hatten. Mirke hörte sich selbst kichern.
Inzwischen hatte der April Einzug gehalten, aber vom Frühling war weit und breit noch nichts zu spüren. Im Gegenteil, am vergangenen Abend hatte es wieder zu schneien begonnen, und der Boden unter der weißen Decke war immer noch gefroren. Die junge Frau hauchte sich in die Hände, denn die Kälte und die Feuchtigkeit drangen durch die Kleider und machten ihre Finger gefühllos. Sie wusste selbst nicht so genau, was sie hierhergetrieben hatte, doch was sie beobachten konnte, schürte nur noch mehr das in ihr lodernde Feuer. Mirke spie auf den Boden. Auf dem mit Pulverschnee bedeckten Pflaster balgten sich ein paar Sperlinge um die Körner in einem Haufen dampfender Pferdeäpfel, und sie sah den Vögeln ein Weilchen zu. Dann griff sie nach einem Stein, warf nach ihnen und nickte zufrieden, als sie einen der Spatzen traf, der daraufhin leblos zu Boden sank. Sie blickte an dem toten Vogel vorbei, und ihre Gedanken wanderten zurück zu Emmerik.
Dass er aufgebracht auf ihr Geständnis reagiert hatte, verstand sie ja noch, er schien sich große, wenn auch zu große Sorgen um seinen Sohn zu machen. Aber sie, die ihm monatelang das Bett gewärmt hatte, im ärgsten Winter fortzujagen, war nun wirklich herzlos. Was war denn schon geschehen, außer diesem kleinen Feuerchen? Sein Sohn und die Hochnase waren nicht zu Hause gewesen, niemandem war ein Haar gekrümmt worden. Die Schimpfs sind doch alle gleich!, durchfuhr es Mirke.
Aus dem Armenhaus hatte sie sich, als noch alles in tiefem Schlaf lag, heimlich davongestohlen. Nicht einen Tag länger wollte sie in dem Gestank und inmitten des Ungeziefers der anderen leben. Aber als sie sich am Hafen von Lübeck wiedergefunden hatte, wusste sie nicht, wohin sie sich wenden sollte. Mit einem Male war ihr bewusst geworden, dass sie in dieser verdammten Stadt keine Freunde hatte, keine Zuflucht, niemand, den es kümmerte, was sie tat. Warum hatte sie sich auch dazu hinreißen lassen, Emmerik die Wahrheit zu erzählen? Seitdem war in ihr dieses Brennen, das selbst die eisige Kälte nicht mildern konnte.
Seit dem Morgengrauen drückte sie sich nun an eine der Hauswände der Schimpfs, um unbemerkt hineinspähen zu können. Baldo hatte mit dieser alten Vettel vor etwa einer Stunde das Haus verlassen, und seine Frau war mit der Tochter allein. Dies war eine willkommene Gelegenheit, um ihrer früheren Herrin einen Besuch abzustatten. In ihrem Leib war ein Kribbeln, erwartungsvoll und erregend, und es steigerte sich, je
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