Das Gottesgrab
den Weg zurück. Er war kaum zwanzig Schritte weit gekommen, als auf der Landstraße ein mit Schülerinnen besetzter Minibus vorbeiratterte. Eine fiel ihm besonders auf. Sie lächelte schüchtern, hatte schöne Haut, große braune Augen und üppige rote Lippen. Während er ihr nachstarrte, vergaß er das Kushari , sein Bett und die schmerzenden Füße. Davon träumte er schon lange: eine schöne, schüchterne junge Frau, die er sein Eigen nennen konnte. Aber Karim wusste auch ganz genau, dass dieser Traum nur wahr werden würde, wenn er anständiges Geld verdiente.
Stöhnend drehte er sich wieder um und schleppte sich den Weg entlang zu dem alten Bauernhof.
II
Mohammed hatte Mühe zu gehen, als er der Krankenschwester folgte. Er musste sich richtig darauf konzentrieren, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sie führte ihn in ein großes Büro, in dem Professor Rafai einen weißen Aktenschrank durchforstete. Mohammed hatte ihn häufig bei den Visiten gesehen, eine Privataudienz war ihm jedoch noch nie gewährt worden. Warum das nun der Fall war, wusste Mohammed nicht. Manche Menschen erfreuten sich daran, gute Nachrichten zu übermitteln, andere hielten es für ihre Pflicht, schlechte Nachrichten persönlich weiterzugeben. Rafai wandte sich mit einem ausdruckslosen, professionellen Lächeln an Mohammed. «Setzen Sie sich», sagte er und deutete auf einen kleinen, runden Tisch. Er zog einen braunen Aktenordner hervor und setzte sich zu ihm. «Ich hoffe, Sie mussten nicht lange warten.»
Mohammed schluckte. War Rafai wirklich so ein Ignorant? Plötzlich wollte Mohammed nur noch hinausgehen und weiter warten. Wenn die Hoffnung alles war, was man noch hatte, wollte man sich daran festklammern. Rafai schlug die Akte auf und schielte durch seine Lesebrille auf die eingehefteten Blätter. Er runzelte die Stirn, als hätte er gerade etwas gelesen, was ihm vorher noch nicht aufgefallen war. «Ihnen ist klar, was eine Knochenmarkstransplantation bedeutet hätte?», fragte er, ohne aufzuschauen. «Sie wissen, was Ihre Tochter hätte durchmachen müssen?»
Unglück ist ein taubes Gefühl. Mohammed wurde kalt und schlecht, gleichzeitig wurde er völlig ruhig. Traurig fragte er sich, wie er es seiner Frau beibringen sollte oder ob Layla verstehen würde, was die Nachricht bedeutete.
Rafai fuhr unbarmherzig fort. «Man nennt dieses Verfahren Knochenmarkstransplantation, aber der Begriff ist irreführend. Die gewöhnliche Chemotherapie wirkt nur auf die Krebszellen und verhindert ihre Zellteilung, in diesem Verfahren vergiftet man aber vorsätzlich den gesamten Organismus, um alle Zellen, die sich schnell teilen, zu vernichten, nicht nur die Krebszellen. Das schließt auch das Knochenmark mit ein. Die Transplantation ist nicht die Behandlung. Die Transplantation ist notwendig, weil der Patient nach der Vernichtung der Körperzellen ohne das Knochenmark sterben würde. Es ist eine traumatische und äußerst schmerzhafte Erfahrung, die keine Garantie auf Erfolg hat. Trotz eines passenden Spenders kann der Körper das Transplantat abstoßen. Und selbst wenn er das neue Knochenmark annimmt, ist die Rekonvaleszenz langwierig. Es folgen ständige Untersuchungen. Die Behandlung beschränkt sich nicht auf wenige Tage. Ein Leben lang bleiben Narben. Und dann muss man auch die Nebenwirkungen bedenken: Unfruchtbarkeit, grauer Star, andere Krebsarten, Komplikationen, die Leber, Nieren, Lunge oder das Herz betreffen können, um nur einige zu nennen …»
In diesem Moment wurde Mohammed etwas klar. Rafai hatte ihn nicht persönlich zu sich gebeten, weil er ihm eine schlechte Nachricht übermitteln musste, er hatte es allein deshalb getan, weil er es genoss, seine Macht zu demonstrieren. Mohammed beugte sich vor und drückte Rafais Akte auf den Tisch. «Sagen Sie, was Sie sagen müssen», verlangte er. «Sagen Sie es geradeheraus. Schauen Sie mir in die Augen.»
Rafai seufzte. «Sie müssen verstehen, dass wir nicht jedem Patienten eine Knochenmarkstransplantation geben können, der sie braucht. Wir teilen unsere Mittel auf der Grundlage medizinischer Befunde zu, und zwar an die Patienten, die höchstwahrscheinlich davon profitieren. Die Leukämie Ihrer Tochter ist leider schon so weit fortgeschritten …»
«Weil Sie die Tests nicht rechtzeitig gemacht haben!», entgegnete Mohammed erregt. «Weil Sie die Tests nicht gemacht haben!»
«Sie müssen verstehen, jeder hier liebt Ihre …»
Mohammed stand auf. «Wann haben Sie das
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